Europa in einer Investitionsdekade: Finanzmarktklausur des Wirtschaftsrates diskutiert mit hochrangigen Rednern notwendige Bausteine für einen wettbewerbsfähigen Finanz- und Investitionsstandort.
Der Wirtschaftsrat richtet mit seiner Finanzmarktklausur in jedem Frühjahr als erster Verband in Berlin eine Fachkonferenz zu den maßgeblichen Leitfragen der Finanzmarktpolitik aus. Dabei ist die Finanzmarktklausur ist nicht nur der Ort, an dem das Who is Who der Finanzwirtschaft mit den hochrangigen Vertretern des politischen Berlins zu einem fachlichen Austausch zusammenkommen. Sie ist immer auch unter den Finanzmarktteilnehmern ein erster Stimmungstest im begonnenen Jahr zu Kernthemen der Branche. Die diesjährige Finanzmarktklausur hatte die Finanzierung des Strukturwandels der Wirtschaft in Deutschland und Europa im Blick. Es stand die Frage im Mittelpunkt, wie die Investitionen der Wirtschaft in digitale Technologien und Geschäftsmodelle, in Nachhaltigkeit und CO2-Neutralität sowie in die Diversifikation von Lieferbeziehungen finanziert werden können.
„Europas Wirtschaft befindet sich in einer Investitionsdekade. Es braucht zusätzliche Finanzkraft aus dem Einsatz von Eigenkapital und Kapitalmarktinstrumenten“, eröffnete Astrid Hamker, Präsidentin des Wirtschaftsrates, die Konferenz. Dem stellte sie den alarmierenden Befund gegenüber, dass Deutschland in den Jahren 2021 bis 2023 netto fast 350 Milliarden Euro an Investitionskapital ans Ausland verloren habe. Die Präsidentin des Wirtschaftsrates zeigte sich überzeugt: „Wir brauchen ein Wiederbeleben des deutschen Kapitalmarktes, an dessen Ende die Integration in einem einheitlichen europäischen Kapitalmarkt stehen muss. Eine Europäische Kapitalmarktunion ist eine wesentliche Voraussetzung für die deutsche Industrie, um Wertschöpfung, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit generieren zu können.“ Die EU müsse es schaffen, aus eigener Kraft Kapital für die heimische Wirtschaft bereitzustellen.
In seiner Keynote Dr. Stefan Hoops, CEO der DWS Group, sieht Europa an einem Wendepunkt, um zu beweisen, ob der „alte Kontinent der Herausforderung gewachsen ist, sich zu wandeln, seine Stärken zu erhalten und neue Wettbewerbsvorteile zu schaffen“. Für Investoren stelle sich die Frage, ob Europa bereit sei, in Energiesicherheit, kritische Rohstoffe oder digitale Infrastruktur zu investieren. Hierüber müsse Einigkeit bestehen, um dann zu klären, welche Instrumente, Anreize und regulatorische Rahmenbedingungen benötigt würden.
Die Finanzmarktklausur des Wirtschaftsrates stellte für Sandra Veseli die Möglichkeit dar, sich als noch neues Gesicht von Moody’s in Deutschland auf dem Berlin Paket vorzustellen. Sie blickt grundsätzlich positiv auf die Entwicklungen in Europa, nicht zuletzt wegen des Next Generation EU Programms. Gleichwohl blieben als „negative Faktoren ein schwaches Wirtschaftswachstum, das geopolitische Umfeld und zu wenig Investition in Infrastruktur und Digitalisierung.“
Auf diesen Befund ging indirekt auch Dr. Elga Bartsch, Abteilungsleiterin im BMWK, ein. „Wir können uns nicht länger eine Fragmentierung mit 27 überwiegend nationalen Kapitalmärkten leisten.“ Die Schaffung eines leistungsfähigen europäischen Kapitalmarkts mit eigenem Ökosystem sei eine geopolitische Notwendigkeit. Auch Frank Scheidig, DZ Bank, sieht in der Kapitalmarktunion einen Motor für die deutsche Wirtschaft und Treiber für eine nachhaltigen Transformation der Unternehmen. Es müssten die Instrumentarien der EU, wie der NextGenerationEU-Fonds, stärker zusammengedacht werden.
Der Präsident der Europäischen Bankenaufsicht (EBA), José Manuel Campa, betonte daher auch die Rolle des EU-Finanzsektors für die Wettbewerbsfähigkeit der EU. Der Finanzsektor sei das Herzstück des Europäischen Binnenmarktes, indem er Investitionen in neue Technologien und die Umstellung unsere Wirtschaft finanziere und somit zur Wettbewerbsfähigkeit der EU beitrage. Er wies darauf hin, dass für die kommende Legislaturperiode der Europäischen Kommission sowohl die Arbeiten an der Kapitalmarktunion als auch an der Bankenunion vollenden werden müssten.
Hieran knüpfte inhaltlich auch die Einordnung des CEO der FlatexDerigo AG, Frank Niehage, an. Er mahnte an, dass auch in der der Finanzmarktpolitik die Wettbewerbsfähigkeit der EU mit bedacht werden müsse. Er zeigte allerdings auf, dass allzu häufig ein deutscher Sonderweg und ein „German Gold Plating“ kontraproduktiv sei und wiederum zu einer Fragmentierung des EU-Finanzbinnenmarktes führe.
Der Wirtschaftsstaatssekretär des Vereinigten Königreichs und City Minister Bim Afolami MP betonte die Bedeutung einer starken Partnerschaft der Wirtschafts- und Finanzstandorte beider Länder. Er sicherte zu, dass es mit dem Vereinigten Königreich zu einem Wettlauf um Deregulierung kommen werde.
Auf die Frage, wie für Bürger und Kleininvestoren ein besserer Zugang zum Kapitalmarkt möglich gemacht werden sollte, ging Erik Podzuweit, Gründer und Co-CEO von Scalable Capital, ein. Wesentlich sei hierfür bereits frühzeitig für eine gute Finanzbildung der Verbraucher zu sorgen. „Eine Kapitalmarktunion bietet die Chance, echte Vorteile für Retail-Investoren hervorzubringen.“ Die positive Entwicklung, dass immer mehr Mensch am Kapitalmarkt anlegen und für die Zukunft sparen sieht er allerdings durch das aktuelle Gesetzesvorhaben zu einer Retail Investment Strategy bedroht: „Statt echte Förderung und Stärkung von Privatanlegern, stehen Regulierungen und Verbote wie der Execution-only-Ban auf der Agenda der RIS.“
Die Finanzmarktklausur widmete sich ebenso dem bedeutsamen Thema der nachhaltigen Finanzpolitik. Lutz Diederichs, CEO der BNP Paribas Deutschland sowie Vorsitzender der Bundesfachkommission Europäische Finanzmarkt- und Währungspolitik im Wirtschaftsrat, kritisierte die rein binäre Ausrichtung der EU-Taxonomie, es fehle der Sinn für das Machbare. „Wir wünschen uns eine ‚Transformationstaxonomie‘“, mit der auch Anreize für die Finanzierung des Übergangs der Wirtschaft in nachhaltigere Geschäftsmodelle gesetzt würden.
Neben den Finanzierungsthemen beleuchtete die Konferenz auch die disruptiven Entwicklungen der Digitalisierung für die Finanzdienstleistungen. Allen voran stand hier der Digitale Euro. Burkhard Balz, Mitglied des Vorstandes der Deutschen Bundesbank, unterstrich, dass ein digitaler Euro entscheidend die Stellung und Wettbewerbsfähigkeit Europas im digitalen Zahlungsverkehr verbessern könne. Dies sollte auch im Interesse des Finanzsektors sein. „Ich sehe den digitalen Euro daher als Chance für die hiesige Kreditwirtschaft, ihre Position zum Beispiel bei E-Commerce-Zahlungen und digitalen Wallets zu stärken und im Wettbewerb mit globalen Anbietern bestehen zu können.“ Abgesehen davon sieht Herr Balz auch aus geopolitischer Sicht Vorteile, eine gemeinsame gesamteuropäische Zahlungsinfrastruktur zu schaffen. Letzendlich müsse der Digitale Euro jedoch von gesellschaftlicher Akzeptanz getragen werden. Für die Bundesbank seien daher einfache Handhabung und Datenschutz zentral. Mit Blick auf die Anwendungspotentiale lies Burkhard Balz durchblicken, dass ein Digitaler Euro auch in tokenisierter Form auf eine Distributed Ledger Technoloy funktionieren müsse. Auch der ehemalige Vorstandskollege in der Deutschen Bundesbank, Prof. Dr. Joachim Wuermeling setzte in seiner Reflexion hier an. Ihm ist wichtig, den Digitalen Euro weiterzudenken und zu einem Digitalen Wholesale Euro zu entwickeln. Erfreulich sei, dass die EZB konzeptionell bei der Einbindung des Digitalen Euros in Smart Contracts schon weiter als andere Zentralbanken sei.
Der Hessische Finanzminister Prof. Dr. Ralph-Alexander Lorz MdL betonte, dass die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Deutschlands auch mit einem starken Finanzplatz zusammenhinge. „Das Schicksal des Finanzplatzes Deutschland entscheidet sich am und mit dem Finanzstandort Frankfurt.“
Hieran knüpfte auch die abendliche Keynote des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesfinanzminister, Dr. Florian Toncar MdB, an. Für die Investitionen der deutschen Wirtschaft komme es vorrangig auf verbesserte Rahmenbedingungen für privates Kapital an, und nicht auf erleichterte Verschuldungsmöglichkeiten öffentlicher Finanzen. Er appellierte letztendlich an die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und erinnerte an die Produktivität privaten Kapitals. Angesichts eines durchschnittlichen Wochenarbeitsvolumens in Deutschland von 34,1 Stunden gegenüber 37,4 Stunden in Frankreich müsse auch in der deutschen Wirtschaft ein Mentalitätswechsel zurück zur Leistungsgesellschaft her.
Neben vielen fachlichen Diskussionen und Netzwerken ergab sich auch ein besonderer, emotionaler Höhepunkt. Die Teilnehmer der Finanzmarktklausur zollte einer herausragenden Persönlichkeit der Finanzwirtschaft ihren hohen Respekt: Der Wirtschaftsrat dankte und ehrte den „Mister Finanzplatz“, Dr. Lutz Raettig, für sein unermüdliches, jahrzehntelanges Engagement zwischen Politik und Finanzwirtschaft. Die Präsidentin des Wirtschaftsrates dankte Herr Dr. Raettig für fast 20 Jahre Engagement im Wirtschaftsrat als Vorsitzender der Bundesfachkommission Europäische Finanzmarkt- und Währungspolitik: „Sie haben dem Wirtschaftsrat Deutschlands Stimme und Gesicht zu den Finanzmarktthemen gegeben […] und damit in einer Zeit turbulenter Entwicklungen an den Finanzmärkten dem Wirtschaftsrat mit Ihrer Expertise die fachliche Autorität in der deutschen Politik verliehen.“ Der Wirtschaftsrat hat Herrn Dr. Lutz Raettig zum Ehrenvorsitzenden der Bundesfachkommission Europäische Finanzmarkt- und Währungspolitik ernannt.
Die Finanzmarktklausur schloss mit einem gesetzten Essen eines ausgewählten Kreises, bei dem der Bundesfinanziminister a. D. Peer Steinbrück einen Überblick über die finanz- und geopolitischen Entwicklungen und Zusammenhänge gab. Er monierte, dass die ausgesprochene Zeitenwende nur unzureichend mit politischen Entscheidungen hinterlegt worden sei; hier käme es auf stärkere Führung der Bundesregierung an.