Standpunkt Steiger: Kurswechsel jetzt!
Wirtschaftspolitische Kolumne des Generalsekretärs des Wirtschaftsrates Wolfgang Steiger
Volkswagen kündigt die seit Jahrzehnten bestehende Beschäftigungssicherung und schließt auch Werksschließungen nicht aus. Eine Zäsur - und ein weiteres Glied in einer Kette von deutschen Unternehmen, die zuletzt harte Anpassungsprogramme angekündigt oder wichtige Investitionsentscheidungen gegen den Standort getroffen haben. Man sollte meinen, dass spätestens jetzt wirklich jeder den Weckruf gehört hat und die schwindende Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland endlich in den Mittelpunkt der politischen Diskussionen rücken wird. Doch weit gefehlt.
Der bisherige Weg des dirigistischen Umbaus der deutschen Wirtschaft soll kompromisslos fortgesetzt, ja sogar beschleunigt werden. Statt einer ehrlichen Bestandsaufnahme der Energiewende und möglichen Neuausrichtung der Energiepolitik, sollen Unternehmen künftig ihre Produktion dem schwankenden Stromangebot von Wind- und Sonnenenergie anpassen oder höhere Netzentgelte bezahlen. Hier wird also schon der nächste Nackenschlag für die industrielle Produktion in Deutschland angekündigt. Ebenso soll die Abkehr von den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft beschleunigt werden. Die Bundesregierung hat sich dem Leitbild einer „sozial-ökologischen Marktwirtschaft“ verschrieben, welches auf staatliche Planung statt wirtschaftlicher Freiheit setzt. Diese Konzeption gelte es nun zu konkretisieren, schreibt das Bundeswirtschaftsministerium. Gleichzeitig karikiert es die Soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhard als ein Wirtschaftsmodell von gestern, das auf neue Herausforderungen „nur bedingt konkrete Antworten geben kann“ und dringend weiterentwickelt werden müsse, da es schließlich nicht mehr dem aktuellen Forschungsstand der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften entspreche.
Den Versuch, aktuelle methodische Trends oder analytische Vorlieben, die in der Ökonomie vorherrschen, zum Scheitelpunkt der Wissenschaft und gültigem Beurteilungsmaßstab zu erheben, darf man wohl wahlweise als unfundiert oder Klamauk abtun. Die wissenschaftlichen Paradigmen der Sozialen Marktwirtschaft haben keineswegs an Aktualität und Gültigkeit verloren. Natürlich beruhten die Maßnahmen, die Erhard durchgeführt hat, auf die damalige spezifische Situation und Gegebenheiten. Vollkommen anders müssen jedoch seine Grundsätze, Überzeugungen und Methoden beurteilt werden. Es ist dringend notwendig, sich wieder auf das zeitlos gültige von Erhards Politik zu besinnen und seine Motive und Werte zu erfassen. Denn genau in der Abkehr von diesem inneren Kern, liegt eine wesentliche Ursache für den dramatisch zunehmenden Vertrauensschwund der Wirtschaft in die Regierungspolitik – Stichwort Konstanz der Wirtschaftspolitik.
Ludwig Erhard hat den Ausdruck „deutsches Wirtschaftswunder“ stets abgelehnt. Er war der Überzeugung, die stürmische wirtschaftliche Entwicklung sei kein „Wunder“, sondern die logische Folge klarer marktwirtschaftlicher Prinzipien und konsequent durchgeführter Maßnahmen. Seine Wirtschaftsreform war kein Handstreichverfahren oder Überrumpelungsmanöver, wie es in verkürzten Schilderungen mitunter dargestellt wird. Es war auch nicht der kalte Sprung in das Wasser der Marktwirtschaft. Nein, Erhards Reformen bestanden vielmehr aus sorgfältig aufeinander abgestimmten Schritten, einem festen Wertekanon und der jahrelangen Vorarbeit von Experten. Was wir nun erleben, ist nichts anderes als der Umkehrschub dieses Prozesses. Wir bekommen die Quittung für eine Politik, die einen großartigen innovativen Kapitalstock fahrlässig erodieren lässt und teilweise sogar bewusst zerstört.
Wie grundsätzlich die Ampelregierung mit Erhards Prinzipien gebrochen hat, lässt sich an unzähligen Punkten aufzeigen. Nur eine kleine Auswahl: Während sich die Bundesregierung rühmt, mit dem Bürgergeld die größte sozialpolitische Reform seit 20 Jahren auf den Weg gebracht zu haben, wusste Erhard, Umverteilungen mindern die Leistungsbereitschaft von Belasteten und Begünstigten. So werden die Tugenden ruiniert, die für gesellschaftliche Stabilität und Solidität bürgen. Das Wirtschaftsministerium macht sich heute daran, „zukunftsfähige“ Branchen und Technologien zu identifizieren und zu fördern. Erhard nannte solche Eingriffe „staatliche Befehlswirtschaft“ und beschrieb in aller Klarheit die Folgen: „So fällt am Ende doch von der Obrigkeit her die Entscheidung, ob dieser oder jener Industriezweig preisgegeben werden müsse (…). Bei anderen wird man sagen, dass sie lebensfähig erhalten werden müssen. Genau an dieser Stelle setzt mehr oder minder die Willkür ein.“
Am klarsten und folgenschwersten wird die Abweichung beim Verständnis der Freiheit. Wenn Bürger „alles, was an Staatlichkeit auf einen zukommt“ als eine Gefährdung des eigenen Freiheitsempfindens empfinden, dann ist das für Robert Habeck eine „falsche, übersteigerte, fast asoziale Freiheitsposition“. Hier liegt die grundsätzliche Unvereinbarkeit zu der Konzeption Erhards vor. Für ihn war Freiheit, für die der Staat Grenzen setzt, eben keine originäre Freiheit. Für Erhard stand jedoch fest, dass schon im Begriff Freiheit ein soziales Element, nämlich die Wahrnehmung von Verantwortung enthalten sein muss. Ohne diese von jedem einzelnen freiwillig getragene Verantwortung, sei Freiheit bloß „Freibeutertum“. Wenn ich jedoch wie Erhard Freiheit und Verantwortung als untrennbare Einheit ansehe, dann hat dies wesentliche Auswirkungen auf die Gestaltungsmöglichkeiten meiner Politik. Sie kann dann auch von der Kehrseite der Freiheit, von der Verantwortung her, aufgezogen werden und sich darauf konzentrieren, ein ethisches System zu etablieren oder zu stabilisieren, in dem keine Grenzen – über Verbote, Regulierungen, Bürokratie und kleinteilige Eingriffe – gezogen, sondern die erforderlichen Grenzen der Freiheit aus sozialer Verantwortung heraus freiwillig getragen werden.
Wenn wir den Trend der wirtschaftlichen Hiobsbotschaften endlich durchbrechen und umkehren wollen, dann müssen wir uns als Erstes offen eingestehen: Die Entwicklungen sind nicht Ausdruck eines zyklischen Problems oder konjunktureller Sonderfaktoren, sondern die erwartbaren Folgen des Verfalls der Rahmenbedingungen, der durch selbstverschuldetes und ganz bewusstes Regierungshandeln verursacht wurde. Die Ampelregierung hat mit den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft gebrochen. Fakt ist: Es muss sich schnell etwas ändern. Ansonsten kommt es täglich weiter zu Substanzverlust, der die Gestaltung der Zukunftsaufgaben erschwert und längst auch die politische Stabilität gefährdet.