Standpunkt Steiger: Auf der schiefen Ebene
Die wirtschaftspolitische Kolumne von Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrates
„Wer schon hatte, hat immer mehr“, beklagte Unionsfraktionschef Jens Spahn unlängst eine ungleiche Vermögensverteilung in Deutschland und sprach sich für eine Reform der Erbschaftsteuer aus, um eine „größere Gerechtigkeit“ herzustellen. Sicher kann man über die Ausgestaltung der Erbschaftsteuer reden. Ihre Erhebung ist durch die hohe Anzahl an Ausnahmen viel zu kompliziert. Das ausstehende Urteil des Bundesverfassungsgerichts könnte zudem ohnehin eine baldige Neuregelung erfordern. Da Änderungen der Erbschaftsteuer unmittelbar die Familienunternehmen in Deutschland treffen, hätte die Diskussion auch trefflich mit der Senkung der hohen Unternehmenssteuern verbunden werden können. Der von Jens Spahn gewählte Diskussionsansatz führt jedoch bedauerlicherweise in eine vollkommen andere Dynamik und es ist besorgniserregend, wie schnell der Grundton gerade bei dieser Debatte auf die schiefe Ebene entgleitet.
Während es ein marktwirtschaftliches Korrektiv wie die FDP im Bundestag nicht mehr gibt, melden sich aus dem linken politischen Spektrum unmittelbar zahlreiche Stimmen zu Wort, die eifrig vorrechnen, was „uns“ die angeblichen Privilegien der vermeintlich Super- und Überreichen „kosten“. Dabei wird bewusst ein vollkommen absurdes und irreführendes Bild gezeichnet, als ob Steuern, die für „Reiche“ nicht erhoben werden, von „den Armen“ zusätzlich bezahlt werden müssten. Mit einer fairen Reform könnten endlich Kitas, bessere Schulen und bezahlbare Wohnungen bezahlt werden, behauptet Grünen Fraktionschefin Katharina Dröge. Warum das aus den bisherigen Rekordsteuereinnahmen nicht möglich sein soll, wird nicht beantwortet. Auch bei der Erbschaft- und Schenkungssteuer hat der deutsche Staat noch nie so viel Geld eingenommen wie im vergangenen Jahr. Heidi Reichinnek stimmt schwungvoll ein, für einen respektvollen Ton gegenüber „den Reichen“ sei es ohnehin zu spät. Wenn man die sozial Schwachen entlasten wolle, „dann muss ich natürlich da das Geld holen, wo es ist.“ Die „Reichen“ als Geldautomat. Und SPD-Fraktionsvize Wiebke Esdar will jetzt schnell Maßnahmen umsetzen, die dafür sorgen, dass „die Reichen in diesem Land nicht immer reicher und die Armen nicht immer ärmer werden". Das mag für das von Klassenkampf-Rhetorik verwöhnte Ohr alles gut klingen, verkennt aber vollkommen die Wirkungsmechanismen einer funktionierenden Volkswirtschaft und den zwangsläufigen und sogar segensreichen Zusammenhang zwischen freiheitlicher Gesellschaft, Wertschöpfung und materiellen Unterschieden.
In Wahrheit ist die einseitige Fokussierung auf das Thema „Ungleichheit“ zynisch. Wer so argumentiert, dem ist Gleichheit wichtiger als der effektive Wohlstand der Menschen. Denn Geschichte zeigt: Es ist nicht Umverteilung und Sozialpolitik, die Massenwohlstand schafft und erhält, sondern die Besserstellung der Ärmsten funktioniert ausschließlich durch den Prozess der marktwirtschaftlichen Wertschöpfung. „Wer seinen Reichtum durch produktives Wirtschaften vermehrt und dabei überproportional reicher wird, ohne anderen etwas wegzunehmen, sondern sogar deren Wohlstand anhebt, der tut nichts Ungerechtes, sondern etwas für die Gesellschaft außerordentlich Nützliches“, betont Priester Prof. Martin Rhonheimer. Denn die Produktivitätsgewinne ermöglichen in der Folge auch sozialpolitische Maßnahmen. Die von der Marktwirtschaft bewirkte Ungleichheit nützt folglich der Allgemeinheit.
Wer im Namen der Gerechtigkeit solche Ungleichheit ausrotten will, wird Wohlstand zerstören und damit vor allem die sozial Schwächsten treffen. Prof. Stefan Kooths weist zurecht darauf hin, dass Vermögen- oder Erbschaftsteuern nicht dazu führen, dass die Betroffenen ihren Konsum einschränken, sondern vielmehr ihre Investitionen. Statt des Privatsektors entscheidet dann der Staat über die Mittel. Doch der Staat ist eben nicht der bessere Unternehmer und während der marktwirtschaftliche Wettbewerb beweglich macht, führt Staatsinterventionismus in die Erstarrung und Anmaßung. Ein schrumpfender oder verzerrter Kapitalstock ist die Folge. Und der macht im Ergebnis alle ärmer.
Wenn wir nochmal auf die von Jens Spahn gestellte Diagnose blicken, lässt sich schnell erkennen, dass die nun kraftvoll vorgetragenen Therapie- und Steuererhöhungsansätze auch überhaupt nicht zur Ausgangs-Beobachtung passen. „Wir hatten in den letzten Jahren, gerade in der Niedrigzinsphase, die Situation, dass Vermögen eigentlich ohne größeres eigenes Zutun von alleine fast gewachsen ist“, so Spahn. Daraus lässt sich schnell die Formel „Erbschaft ist leistungslos“ ableiten. Hier braucht es einen kraftvollen Widerspruch, ignoriert diese Formel doch fahrlässig die Leistung des Erblassers und sein Recht, über die Ergebnisse seiner Leistung zu verfügen. Gleichwohl ist der beschriebene Effekt zu beobachten, was weder neu noch erstaunlich ist. Was Jens Spahn beschreibt, ist in der Ökonomie lange als Cantillion-Effekt bekannt. Cantillons zentrale Erkenntnis lautet: Änderungen in der Geldmenge wirken nicht gleichmäßig, sind also nicht neutral. Typischerweise profitieren vor allem jene, die als Erste Zugang zu neu geschaffenem Geld haben (in unserem Fall etwa Besitzer von Aktien oder Immobilien). Einfach gesagt, Geldpolitik hat immer Verteilungswirkungen – und extreme Geldpolitik, wie wir sie über ein Jahrzehnt gesehen haben, hat eben extreme Verteilungswirkungen.
Eine Politik, die diese Entwicklungen beklagt, hätte viele konkrete Ansatzpunkte. Zuvorderst sollte sie eine achtsame Fiskalpolitik betreiben, damit Notenbanken eben nicht wieder in die Situation kommen, als Feuerwehr in Schulden- und Vertrauenskrisen intervenieren zu müssen. Eine Steuerreform, die Bürgern mehr Ertrag von ihrer Leistung lässt, würde zudem ebenso an der Wurzel dieses Missverhältnisses ansetzen, wie mehr Kapitaldeckung in den Sozialsystemen. Besonders offensichtlich ist auch, dass in Ländern mit hoher Wohneigentumsquote die Vermögensverteilung gleichmäßiger ist. Die folgerichtige Ableitung wäre eine Politik, die sich darauf konzentriert, die Bildung von Wohneigentum zu erleichtern statt zu erschweren – hier hat Deutschland viel Luft nach oben.
Eine vollkommen ungeeignete Antwort auf den Cantillon-Effekt ist jedoch die berechtigte Forderung nach Gerechtigkeit mit Ergebnisgleichheit zu verwechseln. Soziale Verantwortung liegt sicher nicht in der Rhetorik der Schwächung der Starken, sondern in der Befähigung und Stärkung der Schwachen. Denn es bleibt bei Ludwig Erhards Erkenntnis, dass es keinen Staat gibt, der mehr für die Menschen tun könnte, als sie für sich selbst tun könnten und sollten. Es ist eine schlechte Entwicklung, wenn das Bekenntnis wichtiger wird, als die Erkenntnis. Bist du für Klimaschutz, Gerechtigkeit, Respekt, faire Umverteilung? Wettbewerb und Leistung dagegen scheinen zu kontaminierten Wörtern zu werden. Gerechtigkeit wird immer mehr zum Kampfbegriff für die Abwehr von Reformen und zum Freifahrtschein für die schamlose Ausbeutung der Leistungsträger. Der bloße Verweis auf die Gerechtigkeit genügt, um jeden Veränderungsvorschlag, der im Interesse von Generationengerechtigkeit und Eigenverantwortung in den sozialen Sicherungssystemen geäußert wird, unter Kahlschlagverdacht zu stellen – es genügt ein „Bullshit-Siegel“. Das richtet eine folgenschwere Simplifizierung in den Köpfen an. Das Denken in Zusammenhängen und Wirkungsketten ist dagegen nahezu ausgeblendet.
Eine offene und freie Gesellschaft lebt von den Unterschieden ihrer Bürger. Sie erkennt unterschiedliche Wertvorstellungen, Begabungen, Bedürfnisse und Präferenzen ausdrücklich an. Umso wichtiger ist es, ein Bewusstsein zu schaffen, in dem Eigenverantwortung, Innovationslust und Selbstbestimmung wieder besser gedeihen können. Es geht um einen Wandel in den Köpfen von Versorgung zur Teilhabe. Bildungspolitik muss wieder Ausgangspunkt einer modernen Sozialpolitik der Teilhabe-, Leistungs- und Chancengerechtigkeit werden. Die Aufnahme von Erwerbstätigkeit muss stärker belohnt werden. Es ist höchste Zeit, dass sich wieder ein lebendiges Bewusstsein entwickelt, was Freiheit, Eigentum und Verantwortung bedeuten und was uns die Soziale Marktwirtschaft wert ist, gerade angesichts der Unsicherheit und Ungewissheit, die offene Gesellschaften auszeichnet. Das hat angesichts einer Staatsquote von derzeit knapp 50 Prozent rein gar nichts mit Marktradikalismus zu tun. Sondern mit der nachweisbaren Tatsache, dass das Zusammenspiel von Freiheit, Eigentum, Verantwortung und Haftung immer und überall besser Arbeitsplätze, Wohlstand und Zusammenhalt gesichert hat, als jedes andere Modell.