Standpunkt 06.11.2025
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Standpunkt Steiger: Blauer Brief für die EU

Die wirtschaftspolitische Kolumne von Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrates


„Wenn wir unseren Kurs nicht ändern, wird Europa im Vergleich zu anderen Wirtschaftsregionen der Welt an Wettbewerbsfähigkeit verlieren.“ Mit diesen warnenden Worten richten sich Bundeskanzler Friedrich Merz und 18 weitere europäische Staats- und Regierungschefs in einem bemerkenswerten Brandbrief an EU-Ratspräsidenten António Costa, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola. Sie fordern nicht nur eine sofortige Entlastung der Wirtschaft, sondern drängen vielmehr auf eine grundlegende Kursänderung. Um Freiheit, Sicherheit und Wohlstand in der EU erhalten und sichern zu können, sei „nicht nur ein kleiner, sondern ein substantieller Wandel“ erforderlich. Dieser Appell ist ein dringend notwendiger Weckruf, um aus festgefahrenen und unheilvollen Dynamiken auszubrechen. Es ist aber auch eine Aufforderung an uns alle, diesen Prozess einzufordern und mitzugestalten.

Die ehemalige französische Europaabgeordnete, Ministerin und Vizepräsidentin der Banque de France, Sylvie Goulard, wählt nicht minder drastische Bilder, um den Zustand der EU zu beschreiben. Ihr Europa-Buch trägt den Titel: „Europa blähte sich so sehr auf, dass es krepierte“. Damit bezieht sie sich auf eine Fabel von Jean de La Fontaine, in der ein kleiner Frosch aus Neid und Eitelkeit versucht, sich immer weiter aufzublähen, um so groß wie ein Stier zu werden. Am Ende platzt er vor Anstrengung. Doch steht es wirklich so schlecht um die EU? Klar ist: An Symptomen für diese entschiedenen  Handlungsaufrufe mangelt es wahrlich nicht. Lagen die amerikanische und die europäische Wirtschaft jahrelang gleich auf, driften sie seit 2011 deutlich auseinander und die US-Wirtschaft zieht mit zunehmendem Tempo immer weiter davon. Während es die USA mit wirtschaftsfreundlichen Rahmenbedingungen und Technologieoffenheit schaffen, ihr Wachstumspotenzial zu erhöhen, hat die EU viel zu lange auf den Erhalt hoher Regulierungs- und Sozialstandards in Kombination mit gewaltiger Neuverschuldung gesetzt, ohne die wirtschaftliche Basis zu stärken. 

Europa muss sich endlich von den Mustern lösen, die es in den letzten Jahren geschwächt haben. Dazu gehören insbesondere die Tendenz zu einer Vereinheitlichung von oben sowie der beständige Ruf nach Schuldenfinanzierung über Notenbankgeld oder Gemeinschaftsanleihen. Obwohl hinter beiden Reflexen verständliche und sicher gut gemeinte Motive stehen, untergraben sie wesentliche Erfolgsfaktoren Europas. Schon Charles Darwin stellte heraus, dass eben nicht die stärkste Spezies, die größte oder die intelligenteste überlebt, sondern diejenige, die am anpassungsfähigsten auf Veränderungen reagiert. Und durch seine innere Vielfalt bietet Europa ideale Voraussetzungen dafür - es hat die Flexibilität und die Fähigkeit zu lernen eigentlich schon in seiner Struktur eingebaut. 

Durch eine zunehmend harmonisierte Politik in Bereichen wie Steuern, digitale Regulierung und Industriepolitik hat sich die EU jedoch selbst die Möglichkeit genommen, sich in den jeweiligen Regionen spezifische Wettbewerbsvorteile zu erarbeiten. Ein Regulierungsansatz, der Zusammenhalt gewährleisten sollte, hat allzu oft regionale Stärken nivelliert, anstatt sie zu fördern. Wenn Bundeskanzler Friedrich Merz, Emmanuel Macron, Giorgia Meloni und die anderen Regierungschefs nun in ihrem Brief die EU zu regulatorischer Zurückhaltung auffordern, dann ist es gleichbedeutend mit der Forderung nach einer Wiederbelebung der Subsidiarität. Das im Vertrag von Maastricht festgeschriebene Subsidiaritätsprinzip sollte genau die heute zu beobachtende übergriffige Zentralisierung verhindern und stattdessen Vielfalt bewahren und lokale Innovationen fördern. Eine konsequente Rückbesinnung würde nicht nur eine Vermeidung übermäßiger Regulierung durch Brüssel bedeuten, sondern vor allem einzelne Regionen aktiv in die Lage versetzen, durch gezielte politische Maßnahmen komparative  Vorteile zu erzielen, die ihren jeweiligen Gegebenheiten entsprechen. Durch den Wettbewerb nach innen würde Europa die Wettbewerbsfähigkeit nach außen stärken. Brüssel müsste aufhören Konformität zu erzwingen, sondern würde sich vielmehr als Rahmengeber positionieren, der grundlegende Parameter und grenzüberschreitende Interoperabilität festlegt. Innerhalb dieser Grenzen würde jedoch ein fruchtbarer institutioneller Wettbewerb zugelassen.

„Wenn die Subsidiarität respektiert wird, kann Europa als Labor für politischen Pluralismus fungieren. Länder oder Regionen können neue Ansätze in den Bereichen Besteuerung, Arbeitsrecht, Start-up-Regulierung oder digitale Dienste testen und dabei voneinander lernen“, argumentiert Prof. Karl-Friedrich Israel.  Das gewaltige Potenzial dieser Dynamik lässt sich bereits heute erahnen: Litauen hat durch regulatorische Flexibilität eine wettbewerbsfähige Fintech-Branche entwickelt; Tuttlingen ist zum Weltzentrum für Medizintechnik geworden und  Portugal hat sich ebenso wie Estland als Zielort für digitale Unternehmer positioniert. Diese Erfolgsgeschichten haben sich jedoch in der Regel trotz des EU-Regulierungsrahmens herausgebildet und nicht wegen ihm.

Klar ist auch: Weder Instrumente wie das Notenbankprogramm TPI, das der EZB ermöglicht, gezielt und unbegrenzt Staatsanleihen einzelner Euro-Länder aufzukaufen, um die Kreditzinsen dieser Staatsanleihen zu senken, noch eine gemeinsame Schuldenaufnahme im Stile des Wiederaufbaufonds „NextGenerationEU“, lösen die Haushalts- und Wachstumsprobleme. Sie verschleiern sie nur und sorgen so für eine Verschleppung notwendiger Reformen. Die Rechnung für diese Politik folgt unweigerlich. Die jahrelange Nullzinspolitik wird nicht nur durch hohe Inflation und massive Bilanzverluste der Zentralbanken bezahlt, sondern sie ist auch eine – viel zu wenig beachtete – Ursache dafür, dass das deutsche Produktivitätswachstum auf ein historisches Tief gefallen ist. Während die harte D-Mark die deutschen Unternehmen zwang, ihre Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit beständig durch Innovationen zu steigern, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können, machten die Negativzinsen und der Ankauf von Unternehmensanleihen träge. 

Ähnlich fragwürdig fallen die Ergebnisse der gemeinsamen EU-Schulden aus. Der „NextGenerationEU“-Wiederaufbaufonds sollte eine einmalige Übung bleiben, um die Folgen der Corona-Pandemie abzufedern. Doch mit den Programmen  „Catalyst" und „Krisenmechanismus“  stehen nun potentielle Nachfolger in den Planungen für den mehrjährigen Finanzrahmen 2028 bis 2034. Dabei sind die bisherigen Erfahrungen der Gemeinschaftsschulden alles andere als überzeugend. Der Europäische Rechnungshof testiert dem milliardenschweren „NextGenerationEU"-Programm, dass es bisher kaum wirtschaftliche Impulse liefert und die länderspezifischen Reformen nur zu einem winzigen Bruchteil in Angriff genommen werden. Für die kommenden Jahre dürfte die zweifelhafte und wenig zielorientierte Verwendung noch weiter zunehmen, denn sie erfolgt unter erheblichem Zeitdruck. Bis zum Auslaufen der Kredite 2026 müssen noch hunderte Milliarden Euro verausgabt werden. 

Vor dem Hintergrund dieser Zustandsbeschreibung und der ausgeprägten Wachstumsschwäche mag es momentan kühn klingen, aber es gibt keinen Grund, warum sich Europa in den nächsten Jahren nicht wieder zu einem führenden Zentrum für dynamisches Unternehmertum entwickeln könnte. Es hängt von den Weichenstellungen ab, die heute vorgenommen werden. Die Voraussetzungen sind allemal gegeben. 60 Prozent der weltweiten Hidden Champions sind in Europa zuhause - das steht für einen hochwertigen, produktiven und innovativen Kapitalstock. Der EU-Binnenmarkt ist eine Erfolgsgeschichte, die noch lange nicht auserzählt ist. Es gibt eine starke gemeinsame Wettbewerbspolitik. Und bei allen Studien, die die Lebensqualität von Städten untersuchen und Kategorien von politischer Stabilität über Umweltqualität bis Gesundheit, Bildung und Wohnen einbeziehen, dominieren europäische Städte weiterhin deutlich - hieraus ergibt sich eine ungebrochene Attraktivität für international tätige Unternehmen und deren Mitarbeiter.  

Es braucht nun einen marktwirtschaftlichen Aufbruch, bei dem Europa entschlossen auf Subsidiarität, Technologieoffenheit und Eigenverantwortung als Triebkräfte für Innovation und Wachstum setzt. Ein solcher Kurs mag derzeit noch wenig wahrscheinlich erscheinen. Doch Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich August von Hayek warnte stets davor, dass, wenn man sich nur auf das aktuell politisch möglich erscheinende konzentriert, das, was heute noch politisch machbar ist, morgen schon nicht mehr möglich sein wird. Es braucht deshalb Mut zu marktwirtschaftlichen Zielbildern und Visionen, wie ein freiheitliches und wirtschaftlich erfolgreiches Europa aussehen kann. In einem solchen Europa gewinnt die EU ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht durch Umverteilung und defensiver Regulierungshaltung, sondern durch Stabilität, kreative Schaffenskraft und das konsequente Beseitigen von Hindernissen. Ein solcher Kurs würde Europa einen einzigartigen Vorteil gegenüber zentralisierten Systemen wie China oder einer zunehmend erratisch auftretenden USA  verschaffen.


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