Standpunkt Steiger: Das Geschäft der Reformbekämpfer
Die wirtschaftspolitische Kolumne von Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrates
Hartnäckige Wachstumsschwäche, besorgniserregende Produktionsverlagerungen von Unternehmen ins Ausland, atemberaubende Fehlbeträge in den Sozialversicherungen und Millionen erwerbsfähige Menschen, die Arbeitslosenunterstützung und Bürgergeld erhalten, obwohl händeringend Arbeitskräfte am Arbeitsmarkt gesucht werden - an dem Handlungs- und Reformdruck dürfte es eigentlich keinen Zweifel geben. Doch gleichwohl beobachten wir einen immer wiederkehrenden Reflex, dass nahezu jeder Reformvorschlag zunächst unter dem Kahlschlagverdacht gestellt wird und anschließend demjenigen, der den Vorschlag vorgebracht hat, die moralische Legitimation abgesprochen wird. Diese hochgradige Moralisierung und das unredliche Gleichsetzen von Instrumenten mit Zielen sind zutiefst undemokratisch und sie führen zu einer gefährlichen Blockadehaltung.
Nur einige der aktuellen Beispiele: Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche betont, die Energiewende müsse kosteneffizienter bei gleichem Effekt umgesetzt werden und Tilman Kuban hinterfragt angesichts der veränderten Weltlage zurecht den deutschen Alleingang bei dem Klimaneutralitätsziel 2045. Umgehend beklagen die Grünen einen „Kampfauftrag gegen den Klimaschutz“. Sie wollen sich gegen diesen „ökologischen Rückschritt stellen“ und rufen einen „Herbst des Klimawiderstands“ aus. Dabei bringt nationale Klimaneutralität dem Klima nachweisbar rein gar nichts. Wenn die europäischen Partner sich auf Klimaneutralität bis 2050 einigen, dann spart ein deutsches Vorziehen um fünf Jahre in einem gemeinsamen Emissionshandel, in dem die Anzahl der Zertifikate europaweit gilt, nicht ein einziges Gramm CO2. Für den Industriestandort Deutschland kann der Alleingang jedoch über Wohl und Weh entscheiden.
Kaum ein Thema wird in diesen Tagen so emotional und leider auch so unsachlich diskutiert wie die Reform des Sozialstaats. „Wir müssen und wir werden den Sozialstaat verteidigen - mit Klauen und mit Zähnen. Das sind wir den Menschen schuldig“, verkündet etwa der sozialdemokratische Bremer Bürgermeister Andreas Bovenschulte kampfeslustig. Doch die Leute, die er heldenhaft kratzen und beißen will, gibt es gar nicht. Denn es verläuft überhaupt keine Diskussionslinie zwischen der Abschaffung und der Erhaltung des Sozialstaats. Es gilt, sich vielmehr der Realität zu stellen, dass der Sozialstaat in der jetzigen Form Leistungsanreize schwächt und so zu einer maßgeblichen Wachstumsbremse geworden ist. Doch ohne wirtschaftliches Wachstum wird der Sozialstaat wegen der demografischen Entwicklung bald nicht mehr finanzierbar sein. Wer ihn wirklich verteidigen will, kommt also gar nicht daran vorbei, über umfassende Reformen nachzudenken.
Es lässt sich an vielen Punkten veranschaulichen, dass es eben nicht um die vorgeworfene soziale Kälte und die angebliche Aufkündigung der Solidargemeinschaft geht, sondern um notwendige Effizienzsteigerungen. In der Corona-Zeit ist die Sozialleistungsquote signifikant gestiegen, weil der Staat vieles abfedern musste. Wir sind anschließend jedoch nicht auf das Vor-Pandemie-Niveau zurückgekehrt, sondern liegen weiterhin noch knapp zwei Prozentpunkte über dem alten Trend. Das entspricht knapp 90 Milliarden Euro - niemand wird behaupten, dass Deutschland in den 2010er Jahren ein weniger soziales Land war. Wir reden auch viel zu wenig darüber, dass beim Bürgergeld die Verwaltungskosten bei bis zu 30 Prozent der ausgezahlten Leistungen liegen. Die Integration von Wohngeld und Kinderzuschlag in ein einheitliches Transfersystem, wie es etwa der ifo-Ökonom Andreas Peichl vorschlägt, könnte ebenso Verwaltungskosten reduzieren wie ein Abschaffen der linke-Tasche-rechte-Tasche-Dynamik. So gibt es offensichtlich Konstellationen, in denen eine Familie in gleicher Höhe Steuern zahlt und von unterschiedlichen Ämtern Transferleistungen erhält - was alles erhebliche Verwaltungskosten nach sich zieht. Es kann sogar passieren, dass jemand mehr arbeitet und mehr verdient, aber netto kaum mehr oder sogar weniger hat als vorher. Damit ist die Balance der Sozialen Marktwirtschaft gestört, denn ihr Versprechen „Leistung lohnt sich“ funktioniert nicht mehr.
Auch der Wirtschaftsrat bekommt in diesen Tagen den Reflex der aggressiven Reformbekämpfer zu spüren. Um der Wachstumsschwäche des Wirtschaftsstandortes zu begegnen, haben wir auf Basis unserer Kommissionsarbeit einen 10-Punkte-Plan mit angebotsseitigen Strukturreformen vorgeschlagen. Mit Fug und Recht kann man über jede der Maßnahmen diskutieren. Doch viele linke Gruppen und Politiker, die durch die verschiedenen Parteien wandern, haben daran augenscheinlich keinerlei Interesse. „Was hier von einigen wenigen Konservativen scheinheilig als 'Reformagenda' verkauft wird, ist weiter nichts als Klassenkampf von oben“, wird uns vorgeworfen. Wir hätten „schmutzige Pläne“ und würden mit „mehr Eigenverantwortung“ in Wahrheit lediglich „weniger Leistungen und mehr teure private Vorsorge“ meinen. Damit würden wir „die Axt an das Fundament unserer solidarischen Gesellschaft“ legen und wir dürften uns zu sozialpolitischen Fragen ohnehin nicht äußern, da man keine „unsozialen Vorschläge von sowieso privilegierten Gruppen, die davon ohnehin nicht betroffen seien“ brauche.
Kritik und Streit in der Sache gehören zum Wesen der Demokratie, doch hier gilt es einiges einzuordnen. Zunächst: Wer meint, Gruppen aus dem politischen Diskurs auszuschließen, weil er dort mehr oder weniger direkte Betroffenheit unterstellt, sollte dringend sein Demokratieverständnis hinterfragen. Zudem wird auch hier - analog zu den oben genannten Beispielen - eine Reform unredlicherweise mit Kürzung gleichgesetzt und die Möglichkeit von Effizienzgewinnen vollkommen negiert. So haben wir etwa für mehr Eigenverantwortung in der Krankenversicherung plädiert. Deutschland gibt unbestreitbar einen höheren Anteil des BIP für medizinische Leistungen aus, erzielt aber kaum bessere Ergebnisse als entsprechende Vergleichsländer. Insbesondere haben wir auch den Bereich Kieferorthopädie adressiert. Während in vielen Nachbarländern wie Dänemark oder Schweden knapp 30 Prozent der Kinder eine Zahnspange erhalten, sind es hierzulande rund 66 Prozent - ein Anteil, der alle internationalen Normwerte übersteigt. Österreich hat bereits 2015 das System auf eine Pauschale umgestellt. Als Ergebnis dauert die durchschnittliche Behandlung dort 26 Monate. In Deutschland beträgt die durchschnittliche Behandlungszeit dagegen rund 42 Monate. Hier, nach Systemverbesserungen zu suchen, ist doch gerade im Sinne der Bürger.
Selbsternannte Verteidiger der Solidargemeinschaft übersehen häufig einen zentralen Teil der Gleichung. Ein Grundsatz des Sozialstaates lautet, dass jeder zunächst für sich selbst verantwortlich ist. Wenn der Einzelne die Selbstverantwortung nicht wahrnehmen kann, besteht Anspruch auf solidarische Hilfe. Im Gegenzug schuldet der Hilfeempfänger jedoch auch das Bemühen, die Hilfebedürftigkeit schnellstmöglich zu beenden. Viele der hier genannten und von linker Seite scharf angegriffenen Reformvorschläge zielen lediglich darauf ab, diese eher milde Form der Reziprozität wiederherzustellen. Denn das Bürgergeld etwa hat den Charakter der Grundsicherung verändert – weg von der temporären Hilfe zur Selbsthilfe hin zu einem bedingungsarmen Grundeinkommen. Wir wundern uns dann erstaunt, dass Menschen auf ökonomische Anreize reagieren, und fragen uns, wo eigentlich Leistungsbereitschaft, Aufstiegswille und Fortschrittsglaube geblieben sind. Wer darauf hinweist, legt nicht die Axt an das gesellschaftliche Fundament, sondern besinnt sich auf dessen Kern. Ludwig Erhard warnte eindringlich vor „einer Sozialpolitik, die vielleicht das Gute will, aber die Zerstörung einer guten Ordnung schafft“. Auch heute mag eine paternalistische, staatliche Umarmung populär sein. Man muss es aber in aller Deutlichkeit benennen: Sie schwächt den gesellschaftlichen Zusammenhalt und mindert den Wohlstand. Eigenverantwortung ist keine Körperverletzung, sondern der zentrale Ankerpunkt der Sozialen Marktwirtschaft und Grundvoraussetzung für Freiheit und Wohlstand der uns nachfolgenden Generation.