Standpunkt 20.11.2025
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Standpunkt Steiger: Deutschlands Giftcocktail

Die wirtschaftspolitische Kolumne von Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrates


Mit besorgtem Ton und in brutaler Klarheit war der Wirtschaftsstandort Deutschland vor wenigen Tagen Gegenstand eines “Big Read“, also einer ausführlichen Analyse, in der Financial Times – eine für die Perspektive internationaler Investoren besonders bedeutsame Informations- und Meinungsquelle. Schon die Überschrift fühlt sich an, wie ein Schlag in die Magengrube: „Kann irgendwas den Niedergang der deutschen Industrie noch aufhalten?“  Die folgende Zustandsbeschreibung listet schmerzhafte, aber auch weitestgehend bekannte Wegmarken auf. Die Industrieproduktion in Deutschland bricht dramatisch ein und ist auf das Niveau von 2005 zurückgefallen. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist seit dem Start des Ukraine-Konfliktes im Jahr 2022 in 37 von 44 Monaten gestiegen und befindet sich mit knapp drei Millionen auf dem höchsten Stand seit 14 Jahren. Und auch wer auf ein olivgrünes Wirtschaftswunder hofft und denkt, schwindende Marktanteile in Sektoren wie Automobil oder Chemie ließen sich durch eine nun wachsende Rüstungsindustrie kompensieren, findet Ernüchterung. Die Verteidigungsindustrie macht weniger als 2 Prozent der Arbeitsplätze in der Metall- und Elektroindustrie aus. Und trotz eines Anstiegs von 29 Prozent seit 2022 arbeiten hierzulande weniger Menschen im Panzerbau als in der Spielzeugherstellung. Niemand erwartet von Teddy-Bären, Puppen und Action-Figuren den Turnaround.

Der besorgniserregende Kern der FT-Analyse liegt aber in einer anderen Zahl. Das erste Mal seit Beginn der Aufzeichnungen verzeichnet Deutschland gegenüber China ein Handelsdefizit bei Investitionsgütern. Das bedeutet, China hat in der deutschen Kernkompetenz - der Herstellung von anspruchsvollen Industriemaschinen und Investitionsgütern - die Qualitätslücke geschlossen und ist dabei knapp 30 Prozent billiger als deutsche Maschinenbauer. Diese Entwicklung trifft den Wirtschaftsstandort dort, wo es am meisten weh tut - direkt im Mittelstand, dem Glutofen der deutschen Wettbewerbsfähigkeit. Man kann es nicht deutlich genug betonen: In Kombination mit den Herausforderungen der Leitindustrie Automotive wird hier die historische deutsche Wettbewerbsposition abgegraben. Wenn diese Alarmsignale nicht ausreichen, um auf einen Kurs konsequenter und mutiger marktwirtschaftlicher Strukturreformen einzuschwenken, dann handeln wir in ähnlicher Realitätsverweigerung wie die Figur aus George Bernard Shaws „Die heilige Johanna“, die  - als sie von der pythagoreischen Theorie hört, dass die Erde rund sei und sich um die Sonne drehe - entrüstet ausruft: „Was für ein Narr! Hat er denn keine Augen im Kopf?“

Die FT führt zudem aus, dass viele deutsche Besonderheiten, die einst Stärken waren, sich zunehmend zu Schwachstellen entwickeln. Dazu gehören eine große industrielle Basis, die schwer zu dekarbonisieren ist, eine hohe Abhängigkeit von Exporten in einer Zeit, in der die Globalisierung bedroht ist, und eine mächtige Autoindustrie, die 140 Jahre Erfahrung mit Verbrennungsmotoren abschreiben soll. Auf dieser Beobachtung aufbauend wird die deutsche Wachstumsschwäche insbesondere zwei internationalen Entwicklungen zugeschrieben. Den jeweils neuen Rollen von USA und China. Die USA haben unter Biden mit Subventionsgesetzen und unter Trump mit einer aggressiven Zollpolitik das wirtschaftspolitische Umfeld geändert - für deutsche Unternehmen haben sich die terms of trade dadurch massiv verschlechtert. Die rund zwei Jahrzehnte lang andauernde und unersättlich scheinende chinesische Nachfrage nach deutschen Autos und Maschinenbauprodukten, war lange ein Wachstumsgarant für Deutschland. Heute hat sich China selbst zu einer globalen Hightech-Ingenieursmacht entwickelt und tritt genau in diesen Märkten als Wettbewerber auf. 

So schwerwiegend diese externen Entwicklungen unbestritten sind, der Giftcocktail für die deutsche Wettbewerbsfähigkeit entsteht erst durch die Beimischung der hausgemachten Probleme und Herausforderungen. Und die haben ihre Ursache ganz oft in einem tiefsitzenden Misstrauen gegenüber Wirtschaft und Marktprozessen, welches wiederum häufig an einem eklatanten Mangel an marktwirtschaftlichem Grundverständnis liegt. So ist es gleichermaßen bezeichnend und erschütternd, was Jonas Schreiber, Realschullehrer und Autor des Buches „Realtalk: Lehreralltag“, berichtet: „Ich kenne Lehrer, die im Wirtschaftsunterricht sagen, dass sie freie Märkte und Kapitalismus ablehnen und den Sozialismus bevorzugen. Das lehren sie den Kindern dann auch so – völlig konträr zu dem Wirtschaftssystem in unserem Grundgesetz.“ Wichtige Kompetenzen werden dagegen häufig nicht vermittelt: 95 Prozent der Startup-Unternehmer in Deutschland geben an, dass sie in ihrer Schulzeit keinerlei Wissen über Gründungen vermittelt bekommen haben. Viele berichten sogar, dass ihre Lehrer dem Thema Gründung und Selbstständigkeit ablehnend gegenüberstanden.

Auch durch den politischen Prozess und die dort beständig wiederholten Floskeln wird ein groteskes Zerrbild über unsere Wirtschaftsordnung vermittelt. Nur ein aktuelles Beispiel: Direkt nachdem die Bundesregierung die geplante Senkung der Luftverkehrssteuer bekanntgegeben hat, meldete sich Ricarda Lang empört zu Wort: „Das Deutschlandticket wird immer teurer, weil angeblich kein Geld da ist, aber dann gibt es Steuergeschenke an die Luftfahrtlobby.“ Selbstverständlich wird die Maßnahme von ihr auch noch als Abkehr von einer ökologischen Politik gebrandmarkt. Es ist das gute Recht einer Opposition zu Gesetzesvorhaben anderer Meinung zu sein. Doch hier bündeln sich die beschriebenen anti-marktwirtschaftlichen Zirkelschlüsse. 

Kein anderes europäisches Land belastet seine Luftverkehrsbranche so stark mit Steuern und Abgaben wie Deutschland. Das hat Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit – Fluggesellschaften streichen Routen, Deutschland verliert Passagiere und damit auch Wertschöpfung. Die nun beschlossene Steuersenkung soll gegenwirken. Die geringere Erhebung von Steuern als Geschenk darzustellen und mit Subventionen gleichzusetzen, spricht von einem grundlegenden Unverständnis. Kern und Dimension der hier verglichenen Maßnahmen unterscheiden sich fundamental. Das Deutschlandticket wird mit drei Milliarden Euro subventioniert, und die Luftverkehrsabgabe soll um 350 Millionen Euro gesenkt werden. Eine Maßnahme kostet Geld, die andere soll Standortattraktivität und Wettbewerbsfähigkeit steigern und so zusätzliche Steuereinnahmen generieren. Der Verweis auf die ökologische Wirkung ist ebenso völlig haltlos, da der innereuropäische Luftverkehr längst im europäischen Emissionshandel erfasst ist.

Grundlegende Zusammenhänge müssen offensichtlich wieder mehr erklärt, umgesetzt und gelebt werden. Dazu gehört zuvorderst, die einfache Erkenntnis, dass alle Einkommen für Staat und private Haushalte vom Kapitalstock, also der Summe aller Unternehmen, generiert werden. Das beschreibt auch die FT, die aufzeigt, wie der Umsatzrückgang des Unternehmens Trumpf zu einem 80-prozentigen Einbruch der Gewerbesteuer der Trumpf-Heimatstadt Ditzingen geführt hat. Entsprechend muss unser Kapitalstock gepflegt werden und im Zentrum des politischen Handelns stehen.  Das gilt übrigens ebenso für das emotionalste Thema der letzten Woche: Auch die Rente kommt nicht vom Staat, sondern von den erwirtschafteten Einkommen, aus denen Beiträge bezahlt werden. Doch dazu ein anderes Mal mehr. Deutschland steht am Scheideweg – das bedeutet, es gibt noch die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, Weichenstellungen vorzunehmen und den Abgesang der Financial Times zu widerlegen. Um den weiteren wirtschaftlichen Abstieg Deutschlands zu verhindern und die langfristige Schuldentragfähigkeit zu sichern, braucht es dringend ein konsistentes ordnungspolitisches Gesamtkonzept, das über den Koalitionsvertrag hinausgeht. Die versprochene Wirtschaftswende sollte nicht nur ein Wahlkampfschlager bleiben, sondern endlich politische Realität werden.


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