Standpunkt 25.09.2025
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Standpunkt Steiger: Eine Gleichung, die nicht aufgeht

Die wirtschaftspolitische Kolumne von Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrates


Die Debatte über Schulden, Wachstum und Investitionen wird derzeit nicht nur in Deutschland intensiv und kontrovers geführt, sondern sie bestimmt auch die europäische Agenda. Deutlich wird dabei, dass es auf allen Ebenen weiterhin eine lautstarke Gruppe gibt, die hartnäckig den gescheiterten Ansätzen und Ideen der Null- und Negativzeit anhängt und der Meinung ist, man müsse sich über die steigenden Schuldenquoten und Zinskosten keine Gedanken machen und könne mangelnde Wettbewerbsfähigkeit durch großzügige, schuldenfinanzierte öffentliche Investitionen adressieren. 

Wohin diese fortgesetzte fiskalische Realitätsverweigerung führt, lässt sich gerade in Frankreich beobachten. Frankreich hat den letzten ausgeglichenen Haushalt vor über 50 Jahren vorgelegt. Präsident Macron war damals noch gar nicht geboren. Im Jahr 2007 lagen die Staatsschuldenquoten von Frankreich und Deutschland noch relativ gleichauf bei jeweils knapp 65 Prozent. Durch die konsequente Umsetzung der Schuldenbremse konnte Deutschland auch nach der Finanzkrise das alte Niveau wieder erreichen und einen neuen Krisenpuffer aufbauen. In Frankreich dagegen blieb das Haushaltsdefizit auch in den Folgejahren auf hohem Niveau und schwankt seit 2010 um sehr hohe fünf Prozent der Wirtschaftsleistung. Das schwache Wirtschaftswachstum und die sukzessive auf fast 60 Prozent des BIP gestiegene Staatsquote waren weitere Zutaten für eine toxische Mixtur.

Die Schuldenquote ist mittlerweile auf 115 Prozent explodiert. Die französische Bonität wurde wiederholt von den Ratingagenturen heruntergestuft und als Folge fließen dieses Jahr knapp 70 Milliarden Euro in den Schuldendienst. Bis 2029 werden die Zinskosten sogar auf über 100 Milliarden Euro jährlich steigen. „Die Franzosen sind süchtig nach Schulden“, warnte der Präsident des französischen Rechnungshofs unlängst in aller Klarheit. Sogar noch drastischer formulierte es Premierminister Bayrou in seinen letzten Reden als Regierungschef: „Wir haben uns angewöhnt, die alltäglichen Ausgaben unseres Landes, unsere täglichen Lebenshaltungskosten, unsere öffentlichen Dienstleistungen, unsere Renten und unsere Sozialversicherungsbeiträge auf Kredit zu finanzieren! Unser Land arbeitet, glaubt, reicher zu werden, und wird jedes Jahr ärmer. Es ist eine stille, unterirdische, unsichtbare und unerträgliche Blutung. Sie können die Regierung stürzen, aber Sie können die Realität nicht verändern.“

Bayrou wollte ein Sparpaket im Umfang von 44 Milliarden Euro umsetzen – unter anderem durch die Streichung von zwei Feiertagen und Kürzungen bei Sozialausgaben. Das Haushaltsdefizit sollte damit bis 2029 auf drei Prozent des BIP gedrückt werden. Doch das Parlament stürzte seine Minderheitsregierung. Dabei müsste Frankreich sogar mehr sparen als von Bayrou vorgesehen. Die Senkung des Defizits auf drei Prozent wäre keineswegs ausreichend gewesen. Diese im Maastrichter-Vertrag festgehaltene Defizitgrenze basierte auf der Annahme von einem nominalen jährlichen Wachstum von fünf Prozent – zusammengesetzt aus drei Prozent realem BIP-Anstieg sowie zwei Prozent Inflation. Auf diese Weise – so die damalige Annahme – könne die Schuldenquote konstant bei 60 Prozent des BIP gehalten werden.

Doch ein Realwachstum von drei Prozent ist heute für Länder wie Frankreich oder Deutschland vollkommen illusorisch. Deutschland besitzt ein Potenzialwachstum von mageren 0,3 Prozent. Auch in Frankreich wird in diesem Jahr ein Wachstum von lediglich 0,6 Prozent des BIP erwartet (bei knapp sechs Prozent Defizit!). Doch, anstatt wachstumsfördernde und standortstärkende Maßnahmen durchzuführen, plädiert in Frankreich Piketty-Schüler Gabriel Zucman dafür, Privat- und Unternehmensvermögen über 100 Millionen Euro mit einer Abgabe von zwei Prozent zu belegen. Seine Begründung: „Französische Milliardäre zahlen keine oder nur sehr wenig Einkommenssteuer.“ Bernard Arnault widerspricht umgehend und rechnet vor, er sei der größte private und Unternehmenssteuerzahler des Landes. Auch die 20 Milliarden Euro, die laut Zucman durch die Vermögensabgabe in die Staatskasse fließen sollen, resultieren aus einer höchst wackeligen Rechnung. Bei den Linken und Sozialisten kommen solche Vorschläge trotzdem gut an. Vor dem Hintergrund der bereits enorm hohen Steuerlast in Frankreich, wäre eine weitere Belastung von Unternehmen absehbar nicht zuträglich für Wachstum und Investitionen. Wenn Steuererhöhungen die Lösung für Frankreichs Probleme wären, hätte sich das Schuldenproblem des Landes schon vor Jahren gelöst. 

Kommen wir zurück zur ursprünglichen Maastricht-Rechnung. Damit die Gleichung trotz ausbleibendem Wachstum aufgeht, braucht es folglich entweder ein signifikant niedrigeres Defizit oder eine deutlich höhere Inflation. Die Bundesbank warnt davor, dass die Defizite (Sondervermögen inkludiert) in Deutschland in den nächsten Jahren auf sechs Prozent hochschnellen können. In Frankreich wird der neue Premierminister Sébastien Lecornu absehbar nur dann länger im Amt bleiben als seine Vorgänger, wenn er zu kostspieligen Zugeständnissen an die Opposition bereit ist, die weiterhin Sozialausgaben verspricht, als würde es kein Morgen geben. Es gilt nüchtern festzuhalten: Wenn wir wissen, dass die Defizite und das Realwachstum in der Gleichung nicht ihre Zielwerte erreichen, dann bleibt als letzte Variable nur noch die Inflation bestehen.

Doch kaum etwas ist ungerechter und gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt mehr, als die Geldentwertung. Stabile Preise sind eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren der Sozialen Marktwirtschaft. Das Gift der Inflation wirkt wie eine degressive Steuer und trifft gerade Menschen mit geringem Einkommen am härtesten. Friedrich Merz hat deshalb Recht, wenn er betont: „Die beste Sozialpolitik ist Geldwertstabilität.“ Doch auch hier versuchen einige den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. So schlägt etwa die Bundestagsfraktion der Grünen aktuell einen „Pakt für bezahlbares Leben“ vor. Staatliche Preisbremsen, subventionierte Deutschlandtickets, ein „Bezahlbares-Wohnen-Programm“, ein künstlich gedrückter Strompreis und ein „Socialleasing“-Modell für E-Autos, das man sich gleich aus Frankreich abgeguckt hat, sind nur einige der Bausteine. Ludwig Erhard wusste noch, dass genau diese ungedeckten Versprechungen und vermeintliche Wohltaten später durch Kaufkraftverlust von den Bürgern bezahlt werden müssen: „Die Inflation kommt nicht über uns als ein Fluch oder als ein tragisches Geschick; sie wird immer durch eine leichtfertige oder sogar verbrecherische Politik hervorgerufen.“ Ein solcher Pakt gegen die Inflation, der steigende Lebenshaltungskosten durch schuldenfinanzierte Sozialpolitik zu begegnen versucht, würde absehbar die Inflation befeuern.

Dass Frankreich überhaupt so riesige Schuldenberge auftürmen konnte, liegt auch an der Europäischen Zentralbank. Durch die jahrelangen, künstlich niedrigen Zinsen hat sie die Reformanreize gesenkt und den disziplinierenden Druck der Märkte ausgeschaltet. Wenn sich Frankreich und andere Länder weiterhin den fiskalischen Realitäten verweigern, wird sich der Blick erneut in Richtung EZB richten. Und EZB-Präsidentin Christine Lagarde betonte bereits, dass Instrumente bereitstünden, um „ungerechtfertigten, ungeordneten Marktdynamiken entgegenzuwirken, die eine ernsthafte Bedrohung für die Transmission der Geldpolitik im Euro-Raum“ darstellen. Zwar sprach sie nicht explizit Frankreich an, gleichwohl kommt diese Aussage einem „whatever-it-takes“ in der Light-Version gleich. Der Werkzeugkasten für eine solche Intervention wäre das neue und bisher noch nicht eingesetzte Transmission Protection Instrument (TPI). Die EZB hat sich bei dem TPI jedoch selbst Fesseln angelegt. Es darf nur zum Einsatz kommen, wenn gegen das betroffene Land kein EU-Defizitverfahren läuft, keine schwerwiegenden makroökonomischen Ungleichgewichte bestehen und die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen gewährleistet ist. Frankreich erfüllt keines dieser Kriterien. Die Aktivierung des TPI für Frankreich würde deshalb einen gewaltigen Vertrauensschaden für die EZB verursachen. An den strukturellen Problemen würde es dagegen nichts ändern. Deutschland sollte Lehren daraus ziehen, wohin der Weg dauerhafter Defizite, verschleppter Reformen und aufgeblähter Staatsaktivität  führt. Umso wichtiger ist es, sich nicht auf die vermeintlichen Wunderprogramme zu verlassen, sondern durch spürbare Reformen wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen zu schaffen. 


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