Standpunkt Steiger: It's the incentives, stupid!
Die wirtschaftspolitische Kolumne von Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrates
Die deutsche Volkswirtschaft befindet sich in der längsten wirtschaftlichen Schwächephase seit 1949. Die Industrieproduktion geht seit dem Jahr 2018 zurück. Selbsttragende Wachstumskräfte sind kaum vorhanden. Es ist vielsagend, wenn von dem ohnehin mageren 0,9 Prozent Wirtschaftswachstum, das etwa der IWF 2026 für Deutschland prognostiziert, nahezu ein Drittel auf Kalendereffekte zurückzuführen ist, weil mehr Feiertage auf Wochenenden fallen. Der Rest sind keynesianische Strohfeuereffekte, die aus den höheren Staatsschulden resultieren.
Die Stimmen für einen konsequenten Kurswechsel werden lauter. ifo-Präsident Clemens Fuest sieht Deutschlands Wirtschaft „im Niedergang“ und warnt eindringlich vor einem weiteren Abstieg und Wohlstandsverlust. Er fordert die Bundesregierung auf, bis zum Frühjahr 2026 ein „umfassendes Reform-Gesamtkonzept" vorzulegen, das weit über den Koalitionsvertrag hinausgeht. Auch der wissenschaftliche Beraterkreis beim Bundeswirtschaftsministerium warnt, dass ohne einschneidende Reformen die Wachstumsschwäche in Deutschland zum Dauerzustand wird - „mit gravierenden Folgen für Wohlstand, Stabilität und die Rolle Europas in einer machtorientierten Welt“.
Diese Stimmen sind wohltuend, notwendig und unterstützenswert. Aber sie konkurrieren weiterhin mit ausgeprägten Beharrungskräften. So zeichnet sich die SPD statt durch Reformeifer lieber durch Realitätsverweigerung und Oppositionsarbeit innerhalb der Bundesregierung aus. Der Seeheimer Kreis möchte das Akkumulieren von Betriebsvermögen in Deutschland unattraktiv machen (dabei beruht hierauf unsere einzigartige mittelständische Struktur), im europäischen Parlament stimmen SPD-Abgeordnete - trotz vorheriger Einigung zwischen EVP, Liberalen und Sozialdemokraten - gegen die Vereinfachungen beim geplanten Lieferkettengesetz und die Jusos sind mit Blick auf die angedachte Bürgergeldreform gar der Meinung, „die Antwort auf diese Entwicklung ist konsequenter Klassenkampf“. Unweigerlich schießen einem die Worte der liberalen Vordenkerin und Bestsellerautorin Ayn Rand in den Kopf: „Man ist frei, die Realität zu ignorieren. Man ist frei, seinen Verstand von jedem Fokus zu befreien und jeden Weg blind hinab zu stolpern, den man möchte. Aber man ist nicht frei, den Abgrund zu vermeiden, den zu sehen man sich weigert“
Das Dilemma an dieser Verweigerungshaltung ist, dass ohne ein gemeinsames Grundverständnis in der Wirtschafts- und Finanzpolitik und vor allem ein darauf abgestimmtes Anreizsystem keine stringente Wirtschaftswende gelingt, die den Standort wieder nach vorne bringt. Klar ist: Die Probleme und strukturellen Schwächen, unter denen der Wirtschaftsstandort Deutschland heute leidet, lassen sich nicht allein durch eine Aneinanderreihung von Einzelmaßnahmen lösen. Sie müssen eingebettet werden in das, was Helmut Kohl einst als „geistig-moralische-Wende“ bezeichnete. Denn es ist kein Zufall oder das Resultat externer Schocks, dass uns die Probleme derzeit so geballt begegnen. Es ist die logische Konsequenz von Rahmenbedingungen und Anreizsystemen, die über ein Jahrzehnt lang völlig falsch gesetzt wurden und die die Soziale Marktwirtschaft deformiert haben, weil sie Verteilungsfragen höher gewichten als Leistung und staatliche Einzelfallgerechtigkeit über eine Stärkung der Wettbewerbselemente stellen. Als Konsequenz wachsen in Deutschland nicht mehr die Wirtschaftsleistung, die Produktivität oder das Produktionspotenzial, sondern die Ansprüche und die Staatsquote. Schon im laufenden Jahr dürfte sie 50 Prozent überschreiten. Es ist eine Dynamik, die Markt und Eigenverantwortung ersticken lässt.
Der Wirtschaftspolitik fehlt es seit Jahren an Konsistenz, Verlässlichkeit und klarer ordnungspolitischer Ausrichtung. Wie absurd die Anreize wirken und zu welch grotesken Interventionsspiralen sie führen, lässt sich an vielen Beispielen beobachten. Wir benötigen dringend Arbeitskräfte und machen bezahlte Arbeit zunehmend unattraktiv. Das Zusammenspiel unterschiedlicher Sozialleistungen ist derart unübersichtlich und unabgestimmt, dass sich zusätzliches Arbeiten häufig kaum noch lohnt. Das ifo-Institut hat unfassbare 550 unterschiedliche Sozialleistungen identifiziert, deren Ausmaß und Wechselwirkungen sich gar nicht mehr quantifizieren lassen. Allein die Sozialgesetzbücher umfassen derzeit 3.246 Paragraphen. Wir streiten über einen gesetzlichen Mindestlohn, dabei ist das Kernproblem nicht die Höhe der Entlohnung, sondern ein System, dass dafür sorgt, dass nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen sowie durch den damit verbundenen Transferentzug, oftmals kaum mehr Netto übrig bleibt - und das über mehrere tausend Euro breite Einkommensschneisen. Eine Reform des Sozialstaats muss deshalb vordringlich die Problematik in den Blick nehmen, dass sich Leistung wieder lohnt.
Auch in der Migrationspolitik wurden zu lange völlig falsche Anreize gesetzt. Die Rahmenbedingungen sind durch zu viel Bürokratie, hohe Steuern und Auflagen zu abschreckend für Leistungsträger, bieten jedoch durch die im internationalen Vergleich ausgesprochen attraktiven Leistungen zu viel Anreiz, um in das Sozialsystem einzuwandern – eine fatale Mischung. Auf dem Wohnungsmarkt konkurriert der Staat immer öfter gegen den Normalverdiener, der das mit seinen Abgaben auch noch mitfinanziert. So kittet der Sozialstaat keine Ungerechtigkeiten, so schürt er sie. Bei Rente und Energie leisten wir uns sogar doppelte Subventionsstrukturen: Mit Blick auf die demografische Entwicklung ist längeres Arbeiten schlicht notwendig. Der Bund möchte dies nun mit der Aktivrente subventionieren. Gleichzeitig wird weiterhin ein früheres Ausscheiden aus dem Berufsleben durch die „Rente mit 63“ gefördert, bei der die Abschläge versicherungsmathematisch viel zu gering ausfallen. Ergebnis: Von den heute 55- bis 64-Jährigen sind nur noch drei Viertel erwerbstätig. Bei der Energiepolitik zahlt der Steuerzahler zunächst hohe Subventionen für die Erzeugung von Solarstrom, um anschließend für dessen Entsorgung aus dem Netz gleich nochmal zur Kassen gebeten zu werden - ein Drittel der Solarenergie ist im vergangenen Jahr zu negativen Preisen ins Stromnetz eingespeist worden. Das Ergebnis von solchen Auswüchsen: Die deutschen Strompreise sind mittlerweile beim Dreifachen des asiatischen Niveaus angekommen.
Wenn Umverteilung Vorrang vor wirtschaftlicher Leistung hat, werden Arbeitskräfte demotiviert, Innovationen und Wohlstand untergraben, und die allgemeine Wirtschaftskraft geschwächt. Erst das Leistungsprinzip eröffnet die Chancen auf Sozialstaatlichkeit. Die dysfunktionalen Anreizsysteme werden auch zur Herausforderung für die beschlossenen Sondervermögen zur Erhöhung der öffentlichen Infrastrukturinvestitionen und des Verteidigungsetats. Es gab zuletzt nur selten große Infrastrukturprojekte, die vom Staat durchgeführt wurden und nicht durch hohe Kostensteigerungen oder längere Bauzeiten geprägt waren. Sei es die Hamburger Elbphilharmonie oder der Bahnhof in Stuttgart, an dem seit fast 16 Jahren gebaut wird. In Berlin wurde der Bau des Flughafens gar zur unendlichen Geschichte – Schlampereien, Fehler in der Planung und Mängel beim Bau machten den BER zur international beachteten Peinlichkeit. „Kein Mensch, der nicht medikamentenabhängig ist, gibt Ihnen feste Garantien für diesen Flughafen“, fasste der damalige BER-Kommunikationschef den chaotischen Bauprozess zusammen. Nun gelten die gewaltigen Summen des Sondervermögens als große Hoffnungsträger - doch sie treffen auf staatliche Strukturen, Verfahren und insbesondere Anreize, die selbst reformbedürftig sind. Umso dringender bedarf es zunächst einer Ökonomie der richtigen Anreize, nicht der großen Töpfe. Es liegt insbesondere an der Union zu beweisen, dass mit der Zusage zum Sondervermögen Infrastruktur und dem gleichzeitigen Verzicht auf die notwendigen strukturellen Verbesserungen, die Jacke „Große Koalition“ nicht von Anfang an falsch geknöpft wurde.