Standpunkt Steiger: (K)Eine Frage der Tugend
Die wirtschaftspolitische Kolumne des Generalsekretärs des Wirtschaftsrates Wolfgang Steiger
Es gibt immer wieder Sichtweisen, die sich hartnäckig halten, obwohl sie schlicht falsch sind und schlimmer noch, oft das Gegenteil von dem bewirken, was sie vorgeben. So heißt es etwa, bei Nasenbluten solle man den Kopf in den Nacken legen. Dabei ist das eine schlechte Idee, da das Blut in den Rachen laufen kann, was im Extremfall Erstickungsanfälle auszulösen droht. Ähnlich hartnäckig halten sich Vorurteile und Zuschreibungen über zweifelhafte wirtschaftspolitische Konzepte, die sich in den letzten Jahren aus einer unheilvollen Mixtur von sozialpolitischer Maßlosigkeit, industriepolitischem Allmachtsglauben und klimapolitischer Entkoppelung herausgebildet haben. Auch hier wird immer deutlicher, dass häufig das Gegenteil des Bezweckten erreicht wird. Gleichwohl reißt der Strom an immer neuen Vorschlägen dieser Kategorie nicht ab. Ein Boomer-Soli, der die demografischen Herausforderungen ausgerechnet mit einer weiteren Aushöhlung des Leistungsprinzips adressieren will, eine Berliner SPD, die ungeniert einen Entwurf für ein Gesetz zur Vergesellschaftung erarbeitet, um den Mietmarkt zu regulieren, oder eine Grüne Jugend, die schamlos davon spricht, Unternehmen wie RWE, Leag und Thyssenkrupp enteignen zu wollen, sind nur einige der aktuellen Auswüchse.
Es ist erschreckend, wie Menschen, die zum Teil noch nie in ihrem Leben in der freien Wirtschaft gearbeitet haben, wütend das Privileg einfordern, über ihre Mitmenschen, deren Ersparnisse und Einkommen zu verfügen. Neben aufdringlicher Erziehungsneigung, der Definition, Inszenierung und Bewirtschaftung von Bedürftigen sowie der groben Missachtung von Eigentumsrechten, liegt diesen Ideen meistens ein weiteres untrügerisches Zeichen zugrunde: Die ständige Umdeutung einer politischen Streitfrage in eine moralische. Es ist gerade diese moralische Codierung und das unredliche Gleichsetzen von Instrumenten mit Zielen, die einer lauten Minderheit ihre vermeintliche Überlegenheit verschafft. Positionen, die durch die demonstrative Parteinahme für die gute Sache zum Ausdruck gebracht werden, finden häufig viel leichter Zustimmung als diejenigen, die auf Grundlage aufwendiger Abwägungen von Für und Wider entstanden sind. Politik muss dem Bürger so keine rationalen Problemlösungen mehr anbieten, die im Zweifel einer strikten Erfolgskontrolle unterliegen.
Gutes Handeln wird durch eine richtige Gesinnung zur Schau gestellt und nicht etwa durch positive Handlungsergebnisse. Für den eigenen Niedergang muss man folgerichtig auch keine Verantwortung mehr übernehmen. Am einfachsten ist es, wenn man die Zerstörung des Kapitalstocks noch als Statusgewinn konsumieren kann, immerhin zu den „Guten“ zu gehören. So wird die selbstgewählte Kinderlosigkeit in einem umlagefinanzierten Sozialsystem schon mal zur ökologischen Großtat uminterpretiert und das vorsätzliche Abschalten einer CO2-neutralen Technologie wie der Kernkraft, mitten in einer Phase der Dekarbonisierung und ohne geeignete Alternativen zu besitzen, als Beitrag zur Transformation gepriesen. Seine Mitmenschen über die eigene Vortrefflichkeit zu informieren, ist alles andere als tugendhaft und vielleicht das große Laster unserer Zeit.
Doch noch viel folgenschwerer ist die Ignoranz und Missachtung gegenüber den wahren Tugenden und Prinzipien, auf denen unser aller Wohlstand basiert. Insbesondere wird Großzügigkeit zur Phrase, wenn andere dafür die Rechnung zahlen. Ob in der Sozialpolitik oder bei der Migration, das Bild des barmherzigen Samariters wird besonders gerne bemüht. So plädierte beispielsweise die ehemalige Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt auf dem Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung mit hohem moralischem Brustton dafür, mehr Flüchtlinge aufzunehmen und begründete das biblisch: „Der barmherzige Samariter hat auch seinen Mantel geteilt und hat nicht gewartet, bis jemand kommt und sagt, ich wäre auch noch bereit.“
Der barmherzige Samariter hat zwar nie seinen Mantel geteilt, das war der heilige Martin. Aber der barmherzige Samariter hat einen Überfallenen in eine Herberge gebracht und gepflegt. Am Folgetag gab er dem Wirt noch zwei Silbergroschen damit er sich bei Bedarf weiter um ihn sorgt. Daran sind mehrere Punkte bemerkenswert, aus denen wir lernen sollten: Zunächst einmal war der barmherzige Samariter zwar tugendhaft und hilfsbereit, aber er hatte vor allem auch Geld. Und nur durch sein Geld war er überhaupt in der Lage zu helfen. Hätte er seinen Wohlstand vorher verschenkt oder eine rot-grüne Vermögenssteuer gezahlt, hätte er auch nicht helfen können. Vermögensbildung hat also einen gesellschaftlichen Nutzen. Für den Zusammenhang zwischen einem wachsenden Sozialstaat und vermindertem freiwilligen gesellschaftlichen Engagement gibt es reichlich Evidenz. Doch wo bitte ist die Debatte, ob der Vermögensaufbau durch die inflationäre Geldvermehrung und Schuldenpolitik, durch die exorbitante Steuer- und Abgabenbelastung sowie den konfiskatorischen Sozialstaat verunmöglicht wird?
Zweitens ist die Moral in diesem Bildnis an die eigenen finanziellen Ressourcen gebunden. Der Samariter verwendet sein eigenes Geld aus eigener, freier Verantwortung. Er sagt nicht zu dem Wirt und anderen Herbergsgästen: „Wir müssen gemeinsam solidarisch sein." Er hängt die Kosten der eigenen Tugendparolen eben nicht anderen um. Er zahlt selbst. Zudem geht der Samariter keine unbegrenzte Zahlungsverpflichtung ein, sobald der Überfallene wieder auf den Beinen steht, endet die Hilfe. Wenn aber die Verbindung von eigenem Handeln und Konsequenzen gelockert wird, kann man sich gut fühlen, ohne gut zu sein.
Der Theologe und Ökonom Prof. Martin Rhonheimer betont diesen wichtigen Unterschied: Nächstenliebe und Barmherzigkeit sind Tugenden. Und Tugenden sind immer Haltungen von Personen, sie bewegen sich also auf einer individualethischen Ebene. Sie prägen freie menschliche Entscheidungen und sind Ausdruck der inneren Einstellung. Das lässt sich eben nicht auf den Staat übertragen. Die persönliche Großzügigkeit von Amtsträgern, Politikern und Beamten kann sich deshalb auch nicht daran messen, wie großzügig sie mit Steuergeldern umgehen und wie viel öffentliche Verschuldung sie in Kauf nehmen, um anderen Gutes zu tun. Das wäre ein ruinöses Verständnis: „Es wäre keine Tugend, sondern eher Veruntreuung anvertrauten Gutes. Über jene, die das ihnen anvertraute Gut veruntreuen, gibt es im Evangelium harte Worte“, so Prof. Rhonheimer. Aufgabe des Staates ist nicht, Barmherzigkeit zu üben, sondern die öffentlichen Angelegenheiten, die in seine Kompetenz fallen, zu ordnen.
Die skizzierten Wirtschaftskonzepte gehen allesamt davon aus, dass der gemeine Bürger ja nicht wisse, was gut für ihn sei. Der Mensch, dieses irrationale Wesen, soll und muss vor sich selbst geschützt und anhand vermeintlich sanften, im besten Falle moralischen Drucks in die richtige Richtung geschubst werden. Die Soziale Marktwirtschaft dagegen atmet einen anderen Geist und beruht auf dem Vertrauen in die Vernunft und die Verantwortung des Bürgers. Der gesunde Stolz, ein Leben in eigener Verantwortung zu führen, dafür auch Lebensrisiken zu tragen sowie Verantwortung für andere zu übernehmen - in der Familie, im zivilgesellschaftlichen Engagement, das ist das Rückgrat einer jeden freien Gesellschaft. Für diesen moralischen Kompass müssen wir uns gerade in Zeiten wie diesen viel lauter und offensiver einsetzen.
Mit dieser Ausgabe verabschiedet sich der Standpunkt Steiger bis zum 4. September 2025 in die Sommerpause. Ganz herzlich möchte ich mich für die überwältigend vielen mutmachenden Rückmeldungen, die unterstützenden Anregungen und auch manch kritisches Korrektiv bedanken.
Die neue Bundesregierung pflegt sichtbar einen anderen Ansatz in der Wirtschaftspolitik als die Vorgängerregierungen. Damit bieten sich absehbar große Möglichkeiten, um das „Geschäftsmodell Deutschland“ neu zu beleben und in die Zukunft zu führen. Was kann es Schöneres geben, als mit Einsatz und Überzeugung gemeinsam dafür zu streiten. Dazu bin ich gerne bereit. Aber erstmal wünsche ich Ihnen eine erholsame und sonnige Zeit.