Standpunkt 13.11.2025
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Standpunkt Steiger: Klimapolitik zwischen Gefangenendilemma und Würfelschach

Die wirtschaftspolitische Kolumne von Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrates


Die Debatte über den Umgang mit dem Klimawandel ändert sich unübersehbar. Nur einige der bemerkenswerten Aussagen und Ereignisse der letzten Wochen, die auf den ersten Blick wie Widersprüche aussehen. Evonik-CEO Christian Kullmann bezeichnet den europäischen Emissionshandel als „volkswirtschaftlichen Unsinn“ und fordert dessen Abschaffung. Er kritisiert damit genau jenes Instrument, das marktwirtschaftliche Ökonomen doch eigentlich als den Königsweg der Klimapolitik bezeichnet haben, weil es durch die Preissignale besonders effizient und effektiv seine Wirkung entfaltet. Die EU-Umweltminister sprechen sich nun für eine Verschiebung des ETS 2 aus - der die Sektoren Gebäude und Verkehr umfasst - und treiben damit den industriellen Mittelstand in Deutschland in die Enge, da hierzulande bereits mit einem CO₂-Preis vorangestürmt wurde und Wettbewerbsnachteile nun noch länger bestehen bleiben. Katar und die USA drohen derweil wegen der europäische Klimaauflagen mit einem Stopp aller Flüssiggas-Lieferungen.

Die Entwicklungen, die hinter dieser Vielstimmigkeit stehen, lassen sich auf zwei zentrale Ebenen verdichten: Internationale Kooperation und Akzeptanz. Der Klimawandel ist ein internationales Koordinationsproblem und damit ein klassischer Fall eines spieltheoretischen Gefangenendilemmas, wie es der amerikanische Mathematiker Albert W. Tucker entworfen hat. Ein solches Gefangenendilemma konfrontiert Spieler mit der Entscheidung, ob sie kooperieren oder konkurrieren. Es veranschaulicht, wie zwei rational handelnde Individuen zu einem für beide schlechteren Ergebnis kommen, weil sie sich nicht aufeinander verlassen können. Etwa bei zwei Häftlingen, die wissen, dass sie mit einer geringen Haftstrafe davonkommen, wenn sie sich beide nicht mit Aussagen belasten. Gleichzeitig besteht für beide jedoch die Möglichkeit, gegen den Komplizen auszusagen und damit dessen Haftstrafe deutlich zu erhöhen, während man selbst straffrei davonkommt. Belasten sich jedoch beide wechselseitig, greift die Kronzeugenregelung nicht, und beide werden gleichermaßen zu Höchststrafen verurteilt. Das Gefangenendilemma zeigt, dass das Handeln der Beteiligten entsprechend ihrer eigenen Interessen der Allgemeinheit zum Nachteil gereicht. 

Auch die Klimapolitik zeichnet sich durch diese Dynamik zwischen individuellem und gemeinsamem Vorteil aus. Das optimale Ergebnis wäre, wenn alle kooperieren, gleichzeitig besteht jedoch für jedes einzelne Land ein Anreiz, die eigenen Emissionen nicht zu reduzieren, um sein Wirtschaftswachstum nicht zu gefährden. Wenn alle anderen Länder einen Beitrag leisten, profitiert dieses Land von einem stabileren Klima, ohne die Kosten für Klimaschutzmaßnahmen tragen zu müssen. Die Spielanordnung schließt übrigens aus, dass jemand freiwillig die Höchststrafe wählt, ohne dass die Möglichkeit besteht, für sich selbst oder den Mithäftling irgendein positives Ergebnis erzielen zu können. Analog wird angenommen, dass kein Staat der einzige sein will, der einen Teil seines Wachstums opfert, während niemand anderes kooperiert, es also keine positiven Gesamtwirkungen gibt. Man muss es so deutlich sagen, der Pfad, den Deutschland in den letzten Jahren eingeschlagen hat, ist in einem Setting, das rationales Handeln voraussetzt, nicht mehr abzubilden.

Und damit kommen wir zu dem Thema Akzeptanz. Ein Land, das in der wirtschaftlichen Stagnation gefangen ist, auf massive Verteilungskämpfe zusteuert und geopolitisch immer stärker unter Druck gerät, wird sich nicht dauerhaft leisten wollen und können, eine selbsternannte Vorbildrolle bei Energiewende und Klimaschutz einzunehmen. Insbesondere wenn die Maßnahmen den Bürgern hohe Kosten aufbürden, den Prozess der nationalen De-Industrialisierung beschleunigen und gleichzeitig für das weltweite Klima nahezu nichts bewirken. Es macht deshalb schlicht fassungslos, wenn die energiepolitische Sprecherin der SPD, Nina Scheer, allen Ernstes warnt, Deutschland dürfte sich beim Strompreis „nicht einem Dumping unterwerfen“. Es ist gerade diese abgehobene „Koste es, was es wolle“-Mentalität, die dem Vorhaben die Unterstützung kosten und zu einem Punkt führen kann, an dem der Bürger den wirtschaftlichen Niedergang mehr fürchten wird als den Klimawandel. Dann wird er absehbar den Parteien seine Stimme geben, die sich besonders radikal von Dekarbonisierungsmaßnahmen  - auch den sinnvollen - abwenden. Um das zu vermeiden, ist eine klare Fokussierung auf Kosteneffizienz und die beständige Anpassung der Programmatik an das weltpolitische Umfeld unverzichtbar. 

Neuste Forschungen zeigen, dass erfolgreiche Strategien im iterierten Gefangenendilemma sich insbesondere durch ihre Anpassungsfähigkeit auszeichnen. Doch genau daran mangelt es der nationalen und europäischen Klimapolitik bislang eklatant. In diesem Punkt liegt auch die Auflösung, ob der europäische Emissionshandel nun „volkswirtschaftlicher Unsinn“ oder marktwirtschaftlicher Königsweg ist. Beides ist richtig, betrachtet jedoch unterschiedliche Schritte im spieltheoretischen Aufbau. Wenn man die EU-Klimaziele als gegeben ansieht, dann ist und bleibt der Emissionshandel der beste Weg. Die einzige Alternative zur Zielerreichung wären Subventionen, Regulierung und Bürokratie. Das wäre deutlich ineffizienter und teurer. Doch die Kritik an dem Emissionshandel richtet sich nicht an das Instrument selbst, sondern stellt die Frage, ob die konsequente Verteilung von CO₂-Budgets auf Jahre und Sektoren im aktuellen weltpolitischen Umfeld überhaupt zu halten ist. „Globale Probleme lassen sich nur durch globale Kooperation lösen. Ist diese nicht erreichbar, helfen nationale Alleingänge nicht weiter. Auch die Geschwindigkeit der Dekarbonisierung sollte daher auf entsprechende Anstrengungen in der übrigen Welt konditioniert werden“, empfiehlt etwa das aktuelle Herbstgutachten. In der Tat: Der Versuch, ein internationales Koordinationsproblem durch nationale Alleingänge lösen zu wollen, ist als ob man zu einem Schachturnier seine besten Würfel mitbringt.

Was folgt daraus? Erstens: Erfolgreiche internationale Klimapolitik braucht Reziprozität, internationale Kooperation und einen Minimalkonsens zwischen den Wirtschaftsräumen Europa, USA und China. Zweitens: CO₂-Preise schaffen hohe Kosten nicht aus der Welt, halten sie aber so gering wie möglich. Das Emissionshandelssystem macht ökonomisch allerdings nur dann Sinn, wenn gleichzeitig die staatsdirigistische Transformationspolitik beendet wird, denn es macht nationale Regulierungen weitgehend überflüssig, ja, schlimmstenfalls sogar kontraproduktiv. Länder, die permanent nationale Maßnahmen und Interventionen ergreifen, konterkarieren die Effizienz des Instruments und verhindern die kostenminimale Allokation der CO₂-Vermeidung. Die spannende Diskussion, die zurzeit gar nicht geführt wird, ist deshalb, welche nationalen Ziele und Regulierungen, die uns übermäßig belasten, abgeschafft werden können, wenn wir einen funktionierenden Emissionshandel haben. Dazu gehören unter anderem das deutsche Ziel bis 2045 Netto-Null-Emissionen zu erreichen, das EEG und auch die Flottenziele im Fahrzeugbereich. Drittens: Wie die meisten großen Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht, lösen wir sie nicht durch Regulierung, Verbote und Schrumpfung, sondern durch Kreativität und Schaffenskraft. Der PC hat sich gegenüber der Schreibmaschine nicht wegen eines Schreibmaschinenverbots oder einer steuerfinanzierten PC-Prämie durchgesetzt. Wir müssen den Innovationshebel stärker nutzen. Europa hat 7 Prozent der globalen Emissionen, aber 25 Prozent der weltweiten Wissenschaftler – hier kann ein wichtiger Beitrag liegen.


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