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Standpunkt 27.02.2025
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Standpunkt Steiger: Optimismus für eine aufdämmernde Zeit

Wirtschaftspolitische Kolumne des Generalsekretärs des Wirtschaftsrates Wolfgang Steiger

"Es gibt Jahrzehnte, in denen nichts passiert und es gibt Wochen, in denen Jahrzehnte passieren“, dieses Zitat wird Wladimir Iljitsch Lenin zugeschrieben. Es ist zwar nicht geklärt, ob diese Zeilen wirklich von ihm stammen und es mag zudem unpassend sein, ausgerechnet mit einem Lenin-Zitat Aufbruchstimmung beschreiben zu wollen, unbestreitbar ist jedoch, dass wir zu Beginn des Jahres 2025 genau solche Wochen erleben. Selbst der Begriff der Zeitenwende erfährt eine Steigerung. Mit Epochenbruch soll das vielschichtige Phänomen sprachlich fassbar gemacht werden. Klar ist: Mit den Politikansätzen der Vergangenheit, einer Fortsetzung der Formelkompromisspolitik und einer Ausweitung des Anspruchsdenkens wird Deutschland die hinter diesem Wandel auf uns zukommende Dynamik nicht bestreiten können. Der Wucht der Veränderung lässt sich nicht mit der Bräsigkeit eines „Weiter-so“ begegnen.

Jahrzehntelange Gewissheiten lösen sich in erschreckender Geschwindigkeit in Luft auf: Transatlantische Partnerschaft, Sicherheitsarchitektur, regelbasierte internationale Ordnung - alle diese Eckpfeiler stehen nach der Abkehr Donald Trumps von Europa vor einer fundamentalen Neubewertung. Doch nicht nur die Weltpolitik gerät ins Wanken.  Die Bundestagswahl hat die politische Landkarte in Deutschland grundlegend verändert. Keine zwölf Stunden nach der Wahl gab die einstige Führungsriege der Ampel-Koalition bekannt, von der Bühne abzutreten. Die FDP wird im kommenden Bundestag vollständig fehlen und eine schmerzhafte Leerstelle hinterlassen. Ein liberales Korrektiv hätte es nicht zuletzt deshalb gebraucht, weil die Jugend erschreckenderweise die besten Zukunftsperspektiven ausgerechnet bei der Linkspartei vermutet und es schon jetzt deutliche Anzeichen dafür gibt, dass auch die Grünen noch weiter nach links rücken werden.

Die AfD wird stärkste Oppositionsfraktion im neuen Bundestag werden. Nur der Union wird im neuen Bundestag mehr Redezeit eingeräumt. Den Fraktionschefs der stärksten Oppositionspartei fällt zudem die Rolle des Oppositionsführers zu – das werden künftig Alice Weidel und Tino Chrupalla sein. Sie übernehmen eine Aufgabe mit vielfältigen Gestaltungs- und Kontrollmöglichkeiten. Die Oppositionsführer dürfen nach Regierungserklärungen oder bei Haushaltsdebatten als erste auf die Regierung antworten. Die Partei des Oppositionsführers hat zudem traditionell das Erstzugriffsrecht auf den Vorsitz des wichtigen Haushaltsausschusses. Dort wird festgelegt, wofür der Staat Geld ausgibt und welche Bereiche gekürzt oder gefördert werden. AfD und Linke verfügen gemeinsam über etwas mehr als ein Drittel der Sitze im Bundestag und damit sogar über eine sogenannte Sperrminorität.

Das alles zeigt: Auch, wenn die Union und Friedrich Merz einen klaren Regierungsauftrag erhalten haben, verdient die Gesamtkonstellation des neuen Bundestags durchaus das Prädikat „anspruchsvoll“. Gleichwohl muss dringend ein Politikwechsel gelingen, um das dramatisch erodierende Vertrauen in die Handlungsfähigkeit von Staat und Demokratie wiederherzustellen. Der Ist-Zustand ist fatal: 70 Prozent der Bürger halten den Staat für überfordert – ein absoluter Rekordwert. Es wächst das gefährliche Gefühl, dass trotz rekordhoher Steuern und Abgaben essenzielle Dinge in unserem Land einfach nicht mehr funktionieren: In Zeiten des Arbeitskräftemangels wird Nicht-Arbeit attraktiver gemacht. Bürger und Unternehmen ersticken in einer kafkaesken Bürokratie. Rund 500 Medikamente waren im letzten November in Deutschland nicht lieferbar und wer einen Facharzt-Termin benötigt, lernt schnell, dass sich das Wort „Patient“ vom lateinischen Begriff für Geduld ableitet. Die Liste ließe sich lange fortsetzen: Funktionsfähige Infrastruktur, geordnete Migration, inflationsbeständiges Geld, sichere Innenstädte, moderne Landesverteidigung – was früher selbstverständlich war, gilt heute so nicht mehr. Nicht mal der Strom kommt noch aus der Steckdose - die Bundesnetzagentur kündigt an, dass Unternehmen ihre Produktion bald nach der Windstärke planen sollen.

Doch nicht nur die Selbstwahrnehmung ist angekratzt, auch das Außenbild hat gelitten. Galt Deutschland lange als Safe Haven und Standort, an dem man mit Investitionen nichts falsch machen kann, sind die ausländischen Direktinvestitionen in den letzten Jahren eingebrochen und Deutschland hat im Vergleich zu anderen europäischen Industrienationen deutlich an Boden verloren. Effizienz, Zuverlässigkeit, Funktionalität: Mit diesen Tugenden verbindet die Welt üblicherweise Deutschland. „Bisher hat sich bei der Fußball-Europameisterschaft nichts davon bewahrheitet“, urteilte die „New York Times“ im letzten Jahr knallhart wenige Tage nach dem Turnierstart. Ebenfalls bei der EM mahnt der schottische Fußballverband seine nach Deutschland gereisten Fans, die Kneipen rechtzeitig in Richtung Stadion zu verlassen, da man aufgrund des unzuverlässigen öffentlichen Nah- und Fernverkehrs ansonsten damit rechnen müsse, erst zur Halbzeit anzukommen. Kein Wunder, dass die Schweiz die Züge der Deutschen Bahn gleich komplett auszusperren will, weil sie Chaos im nationalen Zeitplan verursachen. Ähnlich verlieren Länder wie Schweden oder Norwegen sichtbar die Geduld mit der deutschen Energiewende und möchten die Folgewirkungen nicht mehr ausbaden. „Wenn der Wind nicht weht, bekommen wir mit diesem gescheiterten Stromsystem hohe Strompreise. Das ist eine Folge der Abschaltung der Kernkraftwerke“, erklärte die schwedische Energieministerin Ebba Busch. „Es ist eine absolute Scheiß-Situation“, kritisiert Norwegens Energieminister Terje Aasland noch deutlicher. Selbst der sprichwörtliche deutsche Fleiß lässt sich nicht mehr zahlenmäßig untermauern - in jedem anderen Land innerhalb der OECD kommt ein Erwerbstätiger im Schnitt auf mehr Arbeitsstunden im Jahr.

Finden wir uns ab mit Mittelmaß, depressiver Stimmung und einem Abgleiten in die politische Extreme? Nein, das ist nicht der Grundton der Sozialen Marktwirtschaft. Ludwig Erhard verstand es wie kein zweiter, den Menschen den Glauben an die eigene Leistungsfähigkeit zurückzugeben. Er war es, der die oft leidgeprüfte Menschen mitriss durch seine freiheitliche Vision und optimistische Ausstrahlung. Auch heute gilt: Zukunft erschließt sich nicht den Ängstlichen, sondern den Wagemutigen, den Erfindungsreichen, den Fleißigen.

Ein ganzheitliches Denken in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen - das ist das große Erbe Erhards.  Auch die SPD muss erkennen, nicht Besitzstandwahren und eine Politik, die weiter Ansprüche ausweitet, verheißen eine gute Zukunft, sondern Umdenken und Veränderungsbereitschaft. Ein funktionierendes Land und eine leistungsfähige Wirtschaft sind die beste Sozialpolitik. Bildung, Aufstiegsversprechen, Chancen- und Leistungsgerechtigkeit – das sind alles Themen, die jetzt gebraucht werden, die sozial und wirtschaftsliberal zugleich sind. Es kommt darauf an, sich mit kämpferischem Optimismus gegen lähmende Zukunftsängste zu wenden und wieder ein Klima zu schaffen, in dem sich schöpferische Kräfte zum Wohle aller frei entfalten können.  Von diesen schöpferischen Kräften unseres Landes hängt unsere gemeinsame Zukunft ab.