Standpunkt 09.10.2025
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Standpunkt Steiger: Raus aus den Scheindebatten

Die wirtschaftspolitische Kolumne von Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrates


Die tektonischen Platten der Weltwirtschaft verschieben sich fundamental. Laut einer Studie der australischen Denkfabrik ASPI war China zwischen 2003 und 2007 nur in drei von 64 Hochtechnologien führend. Mittlerweile liegt China in 57 Technologiekategorien vorn. Die USA haben in den restlichen Bereichen wie etwa Quanten-Computer die Nase vorn. Das einst taktangebende Europa befindet sich zunehmend in der Zuschauerrolle. Der Wandel ist längst auch im Alltag sichtbar. Telefonierte man früher mit Handys von Siemens oder dem finnischen Technologieführer Nokia, sind es heute Mobiltelefone aus USA, Südkorea oder China. Fuhr man früher weltweit mit Stolz deutsche Autos, verlieren sie heute im Gleichschritt Marktanteile und Status. 

Ein Gegensteuern ist notwendig und der Handlungsdruck ist auch weitgehend unbestritten. Doch bei den wirtschaftspolitischen Therapievorschlägen könnte die Bandbreite kaum größer sein. Von einigen wird weiterhin lautstark eine interventionistische Industriepolitik gefordert. Doch es gibt wenige Argumente dafür, warum beispielsweise ein deutscher Beamter besser als private Akteure wissen sollte, welche Zukunftstechnologien sich herausbilden. Die Ampelregierung in Deutschland hat sich in dieser Frage zuletzt mit besonders dramatischen Flops weltweit blamiert.

Eine Idee, die dagegen sowohl in Deutschland als auch in Europa verbreitet ist – ja, sogar weitgehend Konsens zu sein scheint - ist die Vorstellung, dass höhere Investitionen der Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg sind. In Deutschland soll das gewaltige Sondervermögen für Infrastruktur für die Rückkehr auf den Wachstumspfad sorgen und in Europa gilt der Draghi-Bericht als intellektuelle Grundlage zur Wiederbelebung der Wachstumskräfte. Kernelement der Draghi-Strategie ist die Empfehlung an die Europäische Kommission, die jährlichen Investitionen um mehr als 800 Milliarden Euro zu erhöhen, um die europäische Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen. Doch bei dieser Wunderwaffe ist Vorsicht angezeigt. Es kommt nicht nur auf die Höhe der Mittel an, sondern vor allem auf die Rahmenbedingungen, in die diese Mittel hinein vergeben werden.

Europa hat in den letzten Jahren immer wieder die Erfahrung gemacht, dass gewaltige Investitionsprogramme eben nicht die gewünschten Multiplikatoreffekte hatten. Auch das Beispiel Japan zeigt eindrucksvoll, dass höhere öffentliche Investitionen keineswegs ein Allheilmittel sind. Seit Jahrzehnten sind die dortigen durchschnittlichen Bruttoanlageinvestitionen signifikant höher als in Europa. Die Differenz entsprach umgerechnet zuletzt nahezu exakt den von Draghi geforderten jährlichen 800 Milliarden Euro. Doch trotz beeindruckender Investitionsraten hat sich Japans Wirtschaft im letzten Vierteljahrhundert deutlich abgeschwächt. Lag Japans Pro-Kopf-Einkommen nach Kaufkraftparität vor 20 Jahren noch gleichauf mit Deutschland, so steht es heute deutlich schlechter da als in Italien.

Zurecht könnte man einwenden, es komme halt auf die Art der Investitionen an. Diese müssten vor allem in neue Ideen fließen, um einen spürbaren Wachstumsschub zu erzeugen. Doch genau da steht Japan sogar noch besser da. Während der EU-Durchschnitt für Forschungs- und Entwicklungsausgaben in den letzten 25 Jahren bei lediglich 2 Prozent des BIP lag, investierte Japan kontinuierlich knapp 3 Prozent. Der Ökonom Daniel Gros führt die schwache japanische Entwicklung darauf zurück, dass die Ausgaben in Japan im Wesentlichen auf wenige Großunternehmen konzentriert sind. Kleinere Unternehmen produzieren jedoch 16 Mal mehr Patente pro Mitarbeiter als größere Firmen.

Es wäre also geboten, sich nicht nur auf die Erhöhung der Investitionen und der künstlichen Schaffung europäischer Champions zu konzentrieren, sondern sich vielmehr um die Pflege und Stärkung des Mittelstands und des Innovationsökosystems zu kümmern. Die Analyse spricht außerdem dafür, den unternehmerischen Akteur nicht länger in der politischen Debatte so sträflich zu vernachlässigen. Denn das sind diejenigen, die die gesamte ökonomische Dynamik vorantreiben und mit ihrer Risikobereitschaft Wohlstand für alle schaffen. Und es spricht für die Rückbesinnung auf die Voraussetzungen für ein marktwirtschaftliches System. 

Dazu gehört zunächst die Erkenntnis, dass sich Wettbewerbsfähigkeit weder durch Umverteilung und große Ausgabenprogramme, noch durch die Priorisierung von Risikovermeidung gegenüber Wertschöpfung erreichen lässt. Zu stark ist in Europa der Reflex ausgeprägt, dass Regierungen versuchen, die Menschen vor technologischem und gesellschaftlichem Wandel zu beschützen. Das führt jedoch nur dazu, dass der Wandel auf anderen Kontinenten gestaltet wird und für Europa Abhängigkeiten entstehen. Gleichzeitig hat es zersetzende Auswirkungen auf das Unternehmertum und damit auf die wirtschaftliche Dynamik. Gut gemeint als Gegenteil von gut gemacht.

Besonders deutlich wird das etwa bei der Künstlichen Intelligenz. Chancen und Risiken dieser technologischen Revolution sind noch nicht mal im Ansatz abzusehen. Gleichwohl versucht die EU mit ihrem AI-Act bereits für jede Entwicklung die passende Vorschrift parat zu haben. Es ist das Verbot des Haares in der Suppe, die nicht noch gar nicht gekocht wurde. Oder wie ein österreichisches Wirtschaftsmagazin unlängst schrieb: „Das wäre in etwa so, also hätte man Carl Benz vor dem Bau des „Motorwagen Nummer 1“ vorgeschrieben, wie der Sicherheitsgurt beschaffen sein muss.“

Sogar noch schlimmer als die bevormundende Detailregulierung ist die vorsätzliche Verknappung von Chancen, Möglichkeiten und Technologien. Der Kernkraftausstieg oder das Verbrenner-Aus sind hierfür bedrückende Mahnmale. Exemplarisch für die dahinterstehende Geisteshaltung bleibt die Aussage von Annalena Baerbock: „Jedes Verbot ist auch ein Innovationstreiber“, schwang sie voller Wonne und Überzeugung die Peitsche des Mangels. Es ist zwar richtig, dass sich Knappheit in der Menschheitsgeschichte tatsächlich häufig als ökonomische Triebkraft erwiesen hat. Aber eben nur, wenn auch zeitgleich eine wichtige Nebenbedingung erfüllt war. Und zwar, wenn Ideen, Konzepte und Problemlösungen sich auch frei von Ideologie im Wettbewerb durchsetzen konnten und so in einem Entdeckungsverfahren der Weg gefunden wurde, der  am besten zur Zielerreichung geeignet war. Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich August von Hayek sagte treffend: „Daher möchte ich den Wettbewerb als ein Verfahren zur Entdeckung von Tatsachen betrachten, die ohne sein Bestehen entweder unbekannt bleiben oder doch zumindest nicht genutzt werden würden.“

Entsprechend ist die Weltgeschichte auch voll von Beispielen, die zeigen, wie  ideologische Irrungen dazu führen, dass Knappheit eben nicht Innovationen beflügeln, sondern erst zu wirtschaftlichem Siechtum und dann zu politischem Untergang führen. Am vergangenen Freitag feierten wir auch deshalb den 35. Jahrestag der Deutschen Einheit. Wer sich anmaßt zu wissen, welche Verbote zu welchen Innovationen führen, und auf dieser Basis dann eine künstliche Verknappung von Chancen und Handlungsräumen herbeiführt, begeht nichts anderes als wirtschaftlichen Harakiri. Wichtiger als die Höhe von Investitionsprogrammen ist deshalb eine bewusste Hinwendung zu einer wettbewerbs- und innovationsfreundlichen Denkweise. In Deutschland erscheint die Bundesregierung durch die ideologisch motivierten Blockaden der SPD davon weit entfernt.

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