Standpunkt Steiger: Warum Standortpatriotismus Standortattraktivität braucht
Die wirtschaftspolitische Kolumne von Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrates
„Ein bisschen mehr Standortpatriotismus kann ich mir von dem einen oder dem anderen in der Unternehmensführung schon wünschen", schmettert Bundesfinanzminister Lars Klingbeil auf dem jüngsten Gewerkschaftskongress der IG BCE. Die Bundesregierung habe schließlich dafür gesorgt, dass die Wirtschaft wieder stärker werden könne. Als Beleg verwies Klingbeil auf die Rekordinvestitionen im Bundeshaushalt und auf Steuererleichterungen wie den „Wachstumsbooster". Nun stünden nach seiner Ansicht die Unternehmen in der Verantwortung, die sicherstellen müssten, „dass hier in Deutschland die Standorte gesichert werden, dass die Arbeitsplätze erhalten bleiben". Dieser Appell geht in der Analyse und der Erwartung vollkommen an der Realität vorbei und trägt zudem Elemente von einem gefährlichen „blame game“ in sich. Die Rahmenbedingungen entscheiden, ob Unternehmen in Deutschland investieren oder nicht. Und diese sind weiterhin nicht ausreichend. In den USA und China kostet Energie zum Beispiel nur ein Drittel der deutschen Preise. Doch der Finanzminister sucht die Schuld für die deutsche Wachstumsschwäche ausgerechnet bei den Unternehmern, denen er unterstellt, die falsche Gesinnung an den Tag zu legen. Im kriminalistischen Kontext würde man von einer „Täter-Opfer-Umkehr“ sprechen.
Besonders erstaunlich ist, dass Klingbeil argumentiert, die Politik hätte ihren Beitrag bereits abgeliefert. Während die Wirtschaft dringend auf einen entschlossenen Politikwechsel und sichtbare Zeichen im Herbst der Reformen wartet, scheint der Finanzminister zu glauben, ein Teil der Arbeit sei schon erledigt. Um es klar zu sagen: Deutschland steckt in einer tiefen Strukturkrise und ist mit seinen Steuer-, Regulierungs-, Arbeits- und Energiekosten derzeit kein wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstandort. Wir verlieren deshalb Woche für Woche massiv und unwiederbringlich an industrieller Wertschöpfung - damit bröckelt das Fundament, auf dem unser Wohlstand gebaut ist. Schuldenfinanzierte staatliche Ausgabenprogramme werden hieran nichts ändern. Um einen weiteren wirtschaftlichen Abstieg Deutschlands zu verhindern, braucht es dringend mutige und viel weitergehende marktwirtschaftliche Strukturreformen.
Unbestritten ist, dass die neue Bundesregierung bereits einige Maßnahmen ergriffen hat und sich im Grundton wohltuend vom interventionistischen Wirtschaftsmodell Robert Habecks absetzt. Von dem notwendigen ordnungspolitischen Befreiungsschlag bleibt sie jedoch bislang weit entfernt. So ist etwa der Investitionsbooster mit seinen Abschreibungsmöglichkeiten fraglos ein richtiges Signal. Die positiven Wirkungen dieser Wachstumsinitiative werden jedoch allein durch die vorgesehenen Maßnahmen im Bereich der Rentenversicherung - etwa Mütterrente und Aussetzung des Nachhaltigkeitsfaktors bis 2031 - wieder mehr als zunichte gemacht. Es braucht also keine Rufer, die an Standortpatriotismus appellieren, sondern Entscheidungsträger, die die Standortbedingungen mit Entschlossenheit verbessern. Und ganz sicher braucht es nicht Reformbremser, die selbst mit Rekordhaushalten nicht auskommen und gleichzeitig sämtliche Sozialausgaben für sakrosankt erklären. Der Sozialstaat in seiner jetzigen Form schmälert Leistungsanreize und ist schon bald nicht mehr zu finanzieren. Ohne konsequentes Gegensteuern werden die Sozialabgaben in den nächsten Jahren ungebremst auf die Marke von 50 Prozent zusteuern. Reformen, die hier mit Anreizen für Leistung und Kostenbewusstsein ansetzen, gehen eben nicht auf Kosten der Schwachen. Vielmehr gewährleisten sie das System gerade für diejenigen finanzierbar zu halten, die darauf angewiesen sind, dass die Leistungen auch künftig bereitgestellt werden.
Die Aussagen Klingbeils lassen befürchten, dass aus dem Blick gerät, worauf es tatsächlich ankommt, nämlich eine Rückbesinnung auf die Grundsätze einer marktwirtschaftlichen Ordnungspolitik. Gerade dies ist es, woran es der deutschen Wirtschaftspolitik seit langem fehlt. Zu selten wird der Versuch einer Klärung dessen unternommen, was unter den Begriffen Standortqualität, internationale Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum eigentlich gemeint ist. Von besonders geringer Sachkenntnis zeugt dabei, wenn über die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft geklagt wird. Deutsche Unternehmen sind hoch wettbewerbsfähig. Ihre Produkte sind auf den Weltmärkten gefragt. Deutschland beherbergt weiterhin knapp die Hälfte aller weltweiten Hidden Champions. Auch der DAX klettert von Rekord zu Rekord - 35 Höchststände allein in diesem Jahr. Die DAX-Unternehmen erwirtschaften rund 80 Prozent ihrer Umsätze im Ausland, auch der deutsche Mittelstand hat einen hohen Internationalisierungsgrad - und die Weltwirtschaft läuft. Doch Deutschland als Standort läuft immer mehr hinterher. Der globale Süden ist in den letzten drei Jahren um knapp 13 Prozent gewachsen, die Weltwirtschaft um etwa 10 Prozent und die Eurozone um rund 2,5 Prozent. In Deutschland erleben wir im selben Zeitraum eine Kontraktion um 0,5 Prozent.
Es ist nicht die deutsche Wirtschaft, die an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt hat, sondern der Wirtschaftsstandort Deutschland. So verfestigt sich ein gefährlicher Trend, dass Investitionen an Deutschland entweder vollkommen vorbeifließen oder Unternehmen ihre Produktion ins Ausland verlagern und in Deutschland lediglich Dienstleistungen rund um die Konzernzentralen zurückbleiben. Umso fahrlässiger ist es, sich durch scheinbare Erfolgsmeldungen oder Begriffsverwischungen in Sicherheit zu wiegen und den Reformdruck runterzuspielen. Anlässlich der aktuellen Steuerschätzung verweist Finanzminister Klingbeil auf positive Wachstumsaussichten und Steuereinnahmen: „Was wir tun, wirkt. Unser Investitionspaket ist ein starker Impuls für neues Wirtschaftswachstum. Die positiveren Aussichten zeigen sich auch in steigenden Steuereinnahmen.“ Hier ist große Vorsicht und Skepsis angesagt. Zwar wird prognostiziert, dass das Wirtschaftswachstum von 0,2 Prozent des BIP im Jahr 2025 auf 1,3 Prozent im Folgejahr ansteigt, aber dieser Effekt basiert auf keynesianischen Nachfrageimpulsen. Durch das massive staatliche Ausgabenprogramm wird lediglich der Auslastungsgrad des bestehenden Produktionspotenzials erhöht. Was Deutschland jedoch benötigt und was Wachstum im eigentlichen Sinne bedeutet, ist die Erhöhung des Potenzials. Doch dafür hat die Politik bislang nicht die Weichen gestellt. Entsprechend wird prognostiziert, dass die Wachstumsrate bis Ende des Jahrzehnts wieder auf magere 0,2 Prozent des BIP zusammenschrumpft – ein Wert, der mit den steigenden Ansprüchen in keiner Weise korreliert.
Wettbewerbsfähigkeit wird immer vom Ordnungsrahmen beeinflusst. Mit guten institutionellen Bedingungen von der Rechtsordnung über Bildung, Leistungsanreizen und Infrastruktur bis zur Technologieoffenheit lassen sich Standortvorteile im internationalen Wettbewerb schaffen. Auf diese wichtige Aufgabe muss sich der Staat wieder konzentrieren. Es braucht eine Agenda, die nicht zu einer Steigerung der Staatsquote oder Strohfeuereffekten führt, sondern zu echtem Wirtschaftswachstum. Eine Agenda, die Investitionen und Innovationen ermöglicht und fiskalische Tragfähigkeit und Generationengerechtigkeit sicherstellt. Eine Agenda, die Marktkräften vertraut und klar festlegt, was in welcher Reihenfolge zu tun ist und wie man die einzelnen Teile nach klaren Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft zu einem Gesamtbild verbindet. Standortattraktivität erleichtert dann Standortpatriotismus.