Standpunkt Steiger: Warum wir so dringend über Konsolidierung reden müssen
Die wirtschaftspolitische Kolumne von Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrates
Wir befinden uns in einer absurd anmutenden Situation. Die Bundesregierung hat gewaltige Sondervermögen beschlossen und nimmt in den kommenden Jahren Schulden in rekordverdächtiger Höhe auf. Gleichwohl klafft in der Finanzplanung für die Jahre 2026 bis 2029 eine riesige Lücke von insgesamt 172 Milliarden Euro. Es gibt bislang kaum Ideen, diese Löcher durch wirkliche Einsparungen zu schließen. Vorschläge, die dazu führen würden, das Haushaltsloch noch weiter zu vergrößern, sind dagegen keine Mangelware. Nun denkt Bundesfinanzminister Lars Klingbeil sogar darüber nach, die Zinskosten für Verteidigungsausgaben unter die Bereichsausnahme zu schieben, sie so von der Schuldenbremse auszunehmen und mit zusätzlichen Krediten zu finanzieren. Schon der britische Philosoph Bertrand Russell wusste: "Der Jammer an der Menschheit ist, dass die Narren so voller Selbstsicherheit sind und die Gescheiten so voller Zweifel". Während Ausgaben für Investitionen spätere Wachstumseffekte gegenüberstehen können, weiß man bei Zinsausgaben mit Gewissheit, dass dies nicht der Fall ist. Die Schuldendynamik beschleunigt sich einfach immer weiter – ohne, dass dem ein künftiger Nutzen entgegensteht. Deshalb widerspricht es offensichtlich dem Grundsatz einer nachhaltigen Finanzpolitik, steigende Zinsausgaben mit neuen Krediten bezahlen zu wollen.
Solche Gedankenspiele wirken, als ob der Finanzminister sich vor dem notwendigen, aber unbequemen Konsolidierungsbedarf drücken möchte. Dies wird angesichts der dramatischen Ausgangslage jedoch nicht gelingen. Wir kommen aus den 2010er Jahren, die sich fiskalisch fraglos als goldene Periode beschreiben lassen. Durch die Nullzinsen hat der deutsche Staat hunderte Milliarden Euro an Zinsen gespart. Die ständig steigende Beschäftigung hat zu wachsenden Einnahmen geführt, ohne dass unpopuläre Steuer- oder Beitragserhöhungen notwendig waren. Man kann es nicht deutlich genug betonen: Diese Phase liegt hinter uns und die Rahmenbedingungen haben sich grundsätzlich verändert, teilweise ins Gegenteil verkehrt. Dies ist weder im politischen Handeln noch in der öffentlichen Debatte bislang auch nur annähernd adäquat abgebildet.
Die fiskalische Situation sei nun mal die Folge der veränderten Sicherheitslage, die höhere Verteidigungsausgaben erfordere, heißt es häufig. Ähnliche Argumente waren bei den Corona- Hilfen oder den Transformationskosten der Ampel zu vernehmen. Diese Aussagen sollen dahingehend beruhigen, dass es sich ja nur um zeitlich begrenzte Sonderausgaben und Ausnahmen handeln würde. Doch ein Blick in die Haushaltsentwicklung zeigt, dass sich im Schatten der großen Krisen und ihren gewaltigen Ausgaben ein gefährliches strukturelles Defizit aufgebaut hat, das keineswegs mit den Rahmendaten und Perspektiven im Einklang steht. Die konsumtiven Ausgaben wurden in den guten Zeiten massiv ausgeweitet. Durch die Wachstumsschwäche der letzten Jahre mussten Stück für Stück Rücklagen abgebaut werden. Inzwischen sind diese Rücklagen längst aufgebraucht, doch die Politik hat sich an diesen Modus gewöhnt. Im Jahr 2024 hat Deutschland unter geltender Schuldenbremse ein Defizit von 2,8 Prozent ausgewiesen. Ohne Änderung des fiskalischen Rahmens und des Grundgesetzes hätten massive Anpassungen und Leistungskürzungen vorgenommen werden müssen, um auf den vorgesehenen Wert einer strukturellen Nettokreditaufnahme von höchstens 0,35 Prozent des BIP kommen zu können.
Diese Anpassungen wurden verschoben und Deutschland wird in den kommenden Jahren neben den Vorgaben der Schuldenbremse auch die 3-Prozent-Defizitregel des europäischen Stabilitätspaktes reißen. Für das kommende Jahr wird mit einem Staatsdefizit von 4,75 Prozent gerechnet. Nun fallen aufgrund einer weiteren Ausnahmeregelung Verteidigungsausgaben bis 2028 nicht unter die europäischen Schuldenregeln. Doch selbst unter Abzug dieser Ausnahme verfehlt das deutsche Defizit mit 3,75 Prozent die Vorgaben deutlich. Mit den Schulden steigen auch die Zinskosten. Zahlte der Bund vor wenigen Jahren noch vier Milliarden Euro an Kapitaldienst, sind es heute knapp 30 Milliarden (es wären sogar 37 Milliarden Euro, wenn nicht die Buchungsmethode umgestellt worden wäre) und am Ende der Legislatur, im Jahr 2029, werden es voraussichtlich bereits knapp 70 Milliarden Euro sein. Steigende Zinsausgaben erfordern Kürzungen an anderer Stelle im Haushalt. Sollte es zu einem wirtschaftlichen oder finanziellen Schock kommen oder Deutschland sein Top-Rating verlieren, könnte es sogar noch größeren Anpassungsbedarf geben.
Auch der Blick auf die Haushaltslage der Kommunen ist erschreckend. Lag das kommunale Finanzierungsdefizit in Deutschland im Jahr 2023 noch bei knapp 6,6 Milliarden Euro, so ist es im letzten Jahr, insbesondere wegen der steigenden Sozialausgaben, auf rund 25 Milliarden Euro angewachsen - der höchste Stand seit der Wiedervereinigung.
Den größten Teil des Bundeshaushalts beansprucht die Rente. Doch die geplanten Maßnahmen aus dem aktuellen Rentenpaket erhöhen die Kosten weiter und verschärfen die Situation. Bei der gesetzlichen Krankenversicherung ist die Situation so dramatisch, dass Gesundheitsministerin Nina Warken von einem „Notfallpatienten“ spricht: Vorgeschriebene Liquiditätsreserven wurden unterschritten und Bundeszuschüsse mussten vorgezogen werden. Zentrale Fragen, wie die Reform der Sozialversicherungen, hat die Bundesregierung in Expertenkommissionen geschoben.
Gleichzeitig sind die Aussichten auf ein höheres Potenzialwachstum, was den fiskalischen Anpassungsdruck mindern würde, nicht sehr rosig. Milliarden aus dem Sondervermögen werden bereits zweckentfremdet und fließen sichtbar eben nicht in zusätzliche Investitionen. Konsequenter Subventionsabbau - bislang Fehlanzeige. Und die großen Ankündigungen, die Sondervermögen durch private Investitionen zu hebeln, drohen zur Dubai-Schokolade der deutschen Politik zu werden. Vor wenigen Monaten noch in aller Munde und nun in den unteren Regalen verschwunden. Auch deshalb, weil der Weg von der Haushaltsfinanzierung in die stärkere Nutzerfinanzierung bei der Infrastruktur gescheut wird.
Auf die öffentlichen Haushalte kommen gewaltige Herausforderungen zu - die Folgen der demografischen Entwicklung schlagen in den nächsten Jahren immer stärker durch. Schon jetzt weist Deutschland ein Primärdefizit aus - die Einnahmen des Staates reichen also nicht aus, um die Kernausgaben zu decken, ohne dabei die Zinszahlungen für die Staatsverschuldung zu berücksichtigen. Wenn der Staat die Zinsausgaben nicht aus Steuereinnahmen finanzieren kann, muss er auf die weitere Kreditaufnahme verzichten und sie nicht - wie von Bundesfinanzminister Klingbeil vorgeschlagen - einfach durch neue Definitionen aus der Statistik verbannen. Das Beispiel Frankreich zeigt eindrucksvoll, was passieren kann, wenn Konsolidierungsbedarf jahrelang vor sich hergeschoben wird. Deshalb ist ein kluges und verlässliches Regelwerk wichtig, das dafür sorgt, dass öffentliche Haushalte erst gar nicht in den Konsolidierungsdruck kommen. Der Reformkommission zur Schuldenbremse kommt hier eine besondere Verantwortung zu. Am einfachsten funktioniert Konsolidierung durch Wachstum und zusätzliche Beschäftigung. Umso wichtiger ist es, endlich alle Hürden zu beseitigen, die dem im Wege stehen. Das wäre zudem ein wichtiger Beitrag, um die wachsende Anzahl von zweifelnden, skeptischen Menschen mit ihrem eigenen Land zu versöhnen.