Cookie-Einstellungen

Standpunkt 30.04.2025
Drucken

Standpunkt Steiger: Sozialsysteme am Scheideweg

Die wirtschaftspolitische Kolumne des Generalsekretärs des Wirtschaftsrates Wolfgang Steiger


In Großbritannien hat der ehemalige Premierminister Tony Blair gerade eine Debatte eröffnet, die unaufhaltbar auch andere Länder – insbesondere Deutschland – erfassen wird. Blair warnte eindringlich davor, die jetzige Klimapolitik weiterzuverfolgen, denn sie sei „unrealistisch“. Seine Warnung: „Zu oft fürchten sich führende Politiker davor, Dinge zu sagen, von denen sie wissen, dass sie wahr sind - der derzeitige Ansatz funktioniert nicht. […] Spitzenpolitiker wissen im Grunde, dass die Debatte irrational geworden ist. Aber sie haben Angst, dies auszusprechen, weil sie nicht als „Klimaleugner“ beschimpft werden wollen.“ Blair plädiert nicht dafür, den Klimaschutz zu beenden oder weniger ambitioniert zu verfolgen, sondern spricht sich vielmehr für andere, effizientere Wege aus. Dafür brauche es als ersten Schritt mehr Realismus und Ehrlichkeit in der Debatte. Er hat mit dieser Analyse vollkommen recht. Doch in Deutschland gibt es neben den Irrungen rund um die Dekarbonisierung und den damit verbundenen staatlichen Transformationsfantasien noch ein weiteres Megathema, das in ähnlichem Maße von unrealistischen Zielvorstellungen und irrationalen Argumenten geprägt ist: Die Zukunftsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme. 

Eine aktuelle Erhebung der Universität Konstanz zeichnet ein dramatisches Bild: 90 Prozent der Bevölkerung haben kein Vertrauen in die langfristige Finanzierbarkeit der Renten. Warum? Weil die Rechnung mathematisch schlicht nicht aufgeht. Die demografischen Herausforderungen sind lange bekannt. Kurz- bis mittelfristig führen sie absehbar zu einem Mangel an Arbeitskräften sowie zu Finanzierungsproblemen in der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung. Auch in der Pflege- und Krankenversicherung stehen ohne weitreichende Sozialreformen gewaltige Beitragsexplosionen bevor. Trotz dieser lang vorhersehbaren Trends war das rentenpolitische Muster der vergangenen 15 Jahre verantwortungsloserweise geprägt von immer neuen Leistungsversprechen - wie der Rente mit 63, der verschiedenen Ausbaustufen der Mütterrente oder der Grundrente. Lastesel sind dabei stets die jungen Beitragszahler.

Die Konturen der schwarz-roten Rentenpläne lassen noch keineswegs die erforderliche Kurskorrektur erkennen.  Im Gegenteil: Neben der Ausweitung der Mütterrente sorgt insbesondere die von der SPD geforderte Rentenniveaugarantie für eine völlig falsche Stoßrichtung.  Das würde desaströse Folgewirkungen für die Wirtschaft und enorme Lasten für die junge Generation bedeuten. Was als Signal der Stabilität gemeint ist, offenbart sich bei genauerem Hinsehen als Ausdruck folgenschwerer Fehleinschätzungen. Schon heute muss der Durchschnittsverdiener hierzulande rund die Hälfte des Bruttoverdienstes an den Staat abtreten. Auch Unternehmen haben fast nirgendwo höhere Abgabenlasten als in Deutschland zu schultern. Ein weiteres Ansteigen der Sozialbeiträge wäre schlicht ruinös. Es würde Arbeitnehmern fatale Anreize geben, weniger zu arbeiten und Unternehmen zu Auslagerungen ins Ausland drängen. 

In aller Klarheit: Mit weiter ansteigenden Sozialbeiträgen wird es keinen neuen Aufschwung geben. Wer das Wohl der Menschen und unseres Landes im Auge hat und seine soziale Verantwortung ernst nimmt, der muss deshalb alles dafür tun, den Sozialstaat nicht zu überfrachten, um ihn langfristig zu erhalten. Die SPD schließt das Aus für die Rente mit 63 ebenso aus wie den Verzicht auf eine weitere  Festschreibung des Rentenniveaus bei 48 Prozent. Es handele sich bei diesen Punkten nicht um Wahlversprechen, sondern um zentrale Fragen der Gerechtigkeit, wird argumentiert.

Doch schon Ludwig Erhard wusste: „Ich habe mir angewöhnt, das Wort Gerechtigkeit fast immer nur in Anführungszeichen auszusprechen, weil ich erfahren habe, dass mit keinem Wort mehr Missbrauch getrieben wird als gerade mit diesem höchsten Wert.“ Auch mit Blick auf die Rentenpläne lässt sich finanzpolitische Unvernunft nicht durch vermeintliche Gerechtigkeit wegargumentieren. Zu offensichtlich sind die SPD- wie auch die CSU-Vorstellungen weder verursacher- noch generationengerecht. Vielmehr scheinen hier wahltaktische Kalküle hindurch. 

Bis 2036 werden fast 20 Millionen Menschen das Renteneintrittsalter erreichen. Bereits heute ist der Medianwähler über 55 Jahre alt. Der Prozess der Alterung beschleunigt sich in den kommenden Jahren, und die Waage der politischen Mehrheiten neigt sich entsprechend immer stärker zugunsten der älteren Wähler. Für politische Parteien wird es damit absehbar nicht leichter, notwendige Maßnahmen zur Vermeidung einer Überlast der Jungen voranzutreiben. Denn die Botschaften, dass die Menschen grundsätzlich länger arbeiten und gleichzeitig ein geringeres Rentenniveau erwarten müssen, sind wenig populär. Ungleich attraktiver erscheint da die Versuchung, die Lasten über neue Verschuldung intergenerativ zu verschieben. Umso wichtiger sind deshalb harte Budgetrestriktionen. Die geplante Reform der Schuldenbremse muss deshalb unbedingt auch vor dem Hintergrund ihres wichtigen Beitrages zur Generationengerechtigkeit geführt werden. Denn bereits bei der vergangenen Bundestagswahl haben sich mehr als die Hälft der 18- bis 24-jährigen Wähler von der demokratischen Mitte verabschiedet. Generationengerechtigkeit verlangt mehr als ein „stabiles Rentenniveau“ für noch schneller steigende Renten und unveränderte Regeln des Rentenzugangs. Sie erfordert in erster Linie die Anerkennung der demografischen und fiskalischen Realitäten. Die alarmierende Abwanderung junger vorrangig hochqualifizierter Deutscher mahnt zudem, dass der Generationenvertrag künftige Generationen nicht an eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit in Deutschland fesseln kann. 

Viele Chancen, einen Turnaround zu schaffen, hat Deutschland nun nicht mehr. Wenn innerhalb der nächsten zehn Jahre mit den Babyboomern die zahlenmäßig stärkste Generation, die jemals in Deutschland geboren wurde, in Rente geht, steuern die Sozialversicherungen auf einen finanziellen Kollaps zu. Denn wir befinden uns bereits in der Phase, in der sich implizite Verpflichtungen sukzessive in explizite Staatsverschuldung transformieren. Friedrich Merz hat diese Woche zurecht darauf hingewiesen, dass die Reform der Sozialsysteme wohl „die größte gesellschaftspolitische Aufgabe der vor uns liegenden Koalition in den nächsten vier Jahren sein wird“. Er betonte die Notwendigkeit für Reformen, die über den Koalitionsvertrag hinausgehen und auf Eigenverantwortung und wesentlich höhere Effizienzen im System setzen. Es ist höchste Zeit, sich in diese Richtung aufzumachen. Dabei wird es nicht ausreichen, Subventionen des vorgezogenen Ruhestands durch zusätzliche Subventionen bei verlängerter Beschäftigung neutralisieren zu wollen. Die wirksamste Medizin gegen Demografie heißt Kapitaldeckung. Es gilt, die private und betriebliche Altersvorsorge attraktiver zu gestalten und zu erleichtern.

Standpunkt Steiger jetzt Abonnieren

Mit dem Absenden dieses Formulars bitte ich um regelmäßige Zusendung der Wirtschaftskolumne „Standpunkt Steiger“ per E-Mail bis auf Widerruf. Der Widerruf ist jederzeit für die Zukunft formlos wie in unserer Datenschutzerklärung beschrieben möglich.

*Pflichtangabe