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Standpunkt 05.09.2024
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Standpunkt Steiger: Das unscharfe Koordinatensystem

Wirtschaftspolitische Kolumne des Generalsekretärs des Wirtschaftsrates Wolfgang Steiger

Rechtsrutsch, Aufstieg der Populisten - das sind nur einige der Schlagworte, mit denen die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen begleitet wurden. „Debakel für die liberale Demokratie“ titelt Der Spiegel – doch ist das Wahlergebnis nicht schlicht Ausdruck der Entscheidungsfreiheit mündiger Bürger? Auch dann, wenn einem - wie mir - das Ergebnis missfällt. „Der Linksruck ist vorbei", analysiert die Neue Zürcher Zeitung NZZ. Aber haben nicht gerade auch die Parteien hinzugewonnen, die auf mehr Staat und eine sozialistisch anmutende Sozialpolitik setzen? Selbst die völkische Rhetorik kann doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die AfD die konservativ-liberalen Ideen der Anfangszeit längst abgeworfen hat und dabei ist, sich in eine national-sozialistische Partei zu wandeln. Sie setzt auf mehr Staat statt privater Vorsorge in der Renten- und Sozialpolitik. Auf Protektionismus und Abschottung statt Freihandel und auf einen autoritär-patriarchalischen Staat statt Freiheit und Eigenverantwortung. Nur wenig unähnlich setzt das BSW auf einen linken Nationalismus.

Es drängt sich immer mehr der Eindruck auf, dass hinter den üblichen Kampfbegriffen ein Koordinatensystem verwendet wird, dass viel zu unscharf ist, um ein differenziertes Bild von den sich gerade vollziehenden Entwicklungen zu erhalten. Die bloße Rechts-Links-Etikettierung mag zur Diskreditierung eines politischen Wettbewerbers ausreichend sein. Wesentliche Dimensionen bleiben hinter ihr jedoch verborgen. Auf diese Weise droht ein unzureichender Befund, der zwischen Ursachen und Symptomen nicht mehr zu unterscheiden vermag. Die Folge einer falschen Diagnose sind dann falsche Therapieansätze.

Gehen wir deshalb einen Schritt zurück. Die Einteilung in linke und rechte Parteien hat ihren Ursprung in der Sitzordnung in der Französischen Nationalversammlung nach der Revolution. Damals saßen die Anhänger der neuen Ordnung links im Plenarsaal, der Adel - der in großen Teilen von der Wiederherstellung der ständischen Ordnung träumte - saß rechts. Auch das deutsche Paulskirchenparlament strukturierte sich nach diesem Muster. Daraus entwickelte sich die Auslegung, links stehe für Fortschritt und Veränderungsbereitschaft und rechts entspräche rückwärtsgewandten Beharrungskräften. Bis heute wird die Terminologie so im politischen Diskurs verwendet und oft auch missbraucht. Dabei haben die damaligen Trennlinien längst ihre Bedeutung verloren. Ein Beispiel für die wenig passgenaue und geradezu paradoxe Zuschreibung: Die Bewahrung der Schöpfung ist ein zutiefst konservatives und nach genannter Lesart, somit rechtes Ziel. Gleichwohl ist eine moralisierte und instrumentalisierte Klimapolitik zum Inbegriff vermeintlich fortschrittlicher rot-grüner Interventionspolitik geworden.

Gerade in Deutschland wird „rechts“ heute zudem häufig mit „nationalistisch“ gleichgesetzt und in Verbindung mit der Ideologie Hitler-Deutschlands gebracht. Auch das verzerrt: Den Nationalsozialismus mit dem Wort „Faschismus“ zu benennen, lenkt von dessen sozialistischen Einschlägen ab. Dabei hat sich Hitler stets als national-etatistisch und kollektivistisch denkender Sozialist bezeichnet, der gegen einen weltoffenen Liberalismus und eine freie Marktwirtschaft kämpfte. Mit guten Gründen lässt sich argumentieren, „rechts“ steht eigentlich vielmehr für Persönlichkeit, Subsidiarität, Patriotismus, freie Wirtschaft, freien Willen und Verantwortlichkeit. Das linke Spektrum manifestiert sich dagegen in Kollektivismus, Gleichmacherei und Zentralismus. Doch diese Dimensionen werden auf der grobschlächtigen Rechts-Links-Skala gar nicht mehr berücksichtigt.

 Ein politisches Koordinatensystem ließe sich etwa auch danach aufziehen, ob die „Einstellung zu DER Wahrheit“ dogmatisch oder liberal ist. Hier wären die Grünen und die AfD an verschiedenen Stellen auf der dogmatischen Achse zu finden. Die Soziale Marktwirtschaft dagegen ist kein Dogma – sie setzt Fragezeichen hinter Dogmen! Eine besonders aussagekräftige Perspektive des politischen Spektrums verläuft vom politischen Subjekt aus - die Gegenpole bilden dann Individualismus auf der einen Seite und Kollektivismus auf der anderen. Die Unterschiede zeigen sich in Elementen eines anderen Ordnungsdenkens. Gerade angesichts des grassierenden Interventionsstaates bringt das Unterscheidungsmerkmal „weniger Staat“ anstelle eines Fortschreitens zu immer „mehr Staat“ wichtige Erkenntnisgewinne.

Im kollektivistischen Gesellschaftsentwurf sind sich Links- und Rechtsextremisten einig. Friedrich August von Hayek legte überzeugend dar, dass Sozialismus und Faschismus im Kern gleichermaßen den Weg in die Knechtschaft führen: Beide zielen auf die Zerstörung von persönlicher Freiheit, Privateigentum, Demokratie und Markt. Beide setzen auf Großgruppen, deren Zusammengehörigkeitsgefühl typischerweise dadurch künstlich gestärkt wird, dass man sich gegenüber anderen Gruppen in aggressiver Weise abgrenzt.

Wer das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen möchte, der muss differenzierter hinsehen und sich die Mühe machen, das Unbehagen, das den Populismus nährt, zu entziffern. Es ist niemandem geholfen, wenn ein undifferenzierter „Kampf gegen rechts“ einfach an die Stelle des kompromisslosen Kampfes gegen den Klassenfeind tritt. Umso wichtiger ist es, dass uns nicht das Sensorium abhandenkommt, zwischen rassistischen, demokratiefeindlichen Überzeugungen und legitimen politischen Anliegen und berechtigten Sorgen zu unterscheiden. Ersteren gilt es in der Tat mit aller Entschlossenheit entgegenzutreten, letztere gilt es jedoch ernst zu nehmen.

Drei Punkte scheinen deshalb unbedingt in den Fokus rücken zu müssen:

Politik muss Probleme anpacken: Eine große Mehrheit der Bevölkerung möchte seit Jahren Kontrolle über die Zuwanderung haben. Doch trotz zahlreicher Versprechungen ist es bis heute nicht einmal im Ansatz gelungen, den Umfang zu kontingentieren, sich auf wirklich Schutzbedürftige zu konzentrieren und Rückführungen von Abgelehnten zu organisieren. Nicht, dass es Zuwanderung gibt, ist der Nährboden für politische Polarisierung,  sondern die vollkommen ungenügende politische Gestaltung. Auch bei der Energiepolitik, beim Wohnungsbau und der Rentenpolitik werden offensichtliche Handlungsnotwendigkeiten fahrlässig negiert. Das Unbehagen beim Bürger steigt.

Realitäten statt Traumwelten: Friedrich Hegel wird das Zitat zugeschrieben: „Wenn die Tatsachen nicht mit der Theorie übereinstimmen – umso schlimmer für die Tatsachen.“ Die Anmaßung einiger politischer Akteure, Gesetze der Natur und des Marktes außer Kraft setzen zu wollen, ist unfassbar, zerstört wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen und verspottet Leistungsträger.

Überzeugen statt moralisieren: Wir brauchen wieder mehr politische Debatte und weniger moralischen Imperativ. Die Aufgabe der Moral liegt eben nicht darin, den Menschen bis ins kleinste Detail vorzuschreiben, was sie tun oder lassen sollen. Moral gibt Auskunft über Grenzen. Sie stellt sich den Fragen: Was darf die Politik unter keinen Umständen tun? Und wozu ist sie unbedingt verpflichtet? Zwischen diesen Grenzen erstreckt sich ein weiter Raum verschiedener Lösungen. Es ist der Ort des eigentlichen politischen Prozesses, in dem wir die Freiheit und Verpflichtung haben, zwischen Möglichkeiten abzuwägen und auszuwählen, die gleichermaßen mit der Moral kompatibel sind. Diesen Raum gilt es mit Inhalten zu besetzen, statt ihn mit moralischen Imperativen zu verengen.