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Standpunkt 15.08.2024
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Standpunkt Steiger: Der große Etikettenschwindel

Wirtschaftspolitische Kolumne des Generalsekretärs des Wirtschaftsrates Wolfgang Steiger

„Es gilt, die soziale Marktwirtschaft als eine sozial-ökologische Marktwirtschaft neu zu begründen.“ Dieser folgenschwere Satz steht auf Seite 5 des Koalitionsvertrag der Ampelregierung. Ein Satz, der harmlos wirkt, der aber die Bundesrepublik in ihren Grundfesten erschüttert hat. Hier wurde nicht nur ein neues Wirtschaftsmodell verordnet. Die Auswirkungen gehen viel tiefer. Eine bewährte, in vielen Stürmen erprobte und zukunftsfähige Wirtschafts-, Werte- und Gesellschaftsordnung wurde gegen eine geradezu wahnwitzige und ökonomisch vollkommen unfundierte Idee eingetauscht. Die fatalen wirtschaftlichen Konsequenzen dieses Experiments, sind an der beispiellos einbrechenden Wettbewerbsfähigkeit längst zu erkennen. Der gewaltige Schaden, der dem Gemeinwesen und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt zugefügt wird, ist dagegen erst in groben Konturen abzusehen.

Schon im Grünen-Grundsatzprogramm aus dem Jahr 2020 wurde das Ziel ausgerufen, die Soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack durch eine „globale sozial-ökologische Transformation“ zu überwinden – mit dem Ziel, dass sich alle wirtschaftlichen Aktivitäten am „gesamtgesellschaftlichen Wohlstand“ ausrichten müssten. Das lässt sich jedoch nur erreichen, wenn der Staat nach seinen Gerechtigkeitsvorstellungen massiv in den Wettbewerb eingreift, den Wachstumsbegriff uminterpretiert und Investitionen zentral lenkt. Da die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland einen Ruf wie Donnerhall besitzt, wurde der angestrebte Systemwechsel nicht offen vollzogen, sondern als trojanisches Pferd einer begrifflichen Weiterentwicklung erreicht. Schon Friedrich August von Hayek hat in seinem Jahrhundertbuch „Der Weg zur Knechtschaft“ angeprangert, wie die Verdrehung der Sprache immer wieder als manipulatives Machtmittel für planwirtschaftliche Ziele missbraucht wird. Unter der Überschrift „Das Ende der Wahrheit“ beschreibt Hayek: „Die erfolgreichste Technik zu diesem Zweck besteht darin, die alten Worte beizubehalten, aber ihren Sinn zu ändern.“

Genau nach diesem Drehbuch wurde vorgegangen. Das, was in den Jahreswirtschaftsberichten des Bundeswirtschaftsministeriums, in der vor staatlichem Interventionismus triefenden Industriestrategie oder unter der Begriffsverenkung „transformative Angebotspolitik“ anschließend als sozial-ökologische Marktwirtschaft ausbuchstabiert wurde, ist mit dem ursprünglichen Ordnungskonzept Ludwig Erhards ganz und gar unvereinbar. Es ist ein Programm gegen Marktwirtschaft und Eigenverantwortung. Bekenntnisse zu Wachstum, Produktivität und Wettbewerb finden sich fortan nur noch stark abgeschwächt und eng konditioniert: Wettbewerb selbstverständlich lediglich „fair“, Handel höchstens „sozial, ökologisch menschenrechtlich“. Digitalisierung „verantwortungsvoll, nachhaltig, inklusiv“, Außenwirtschaftspolitik „wertebasiert“, Marktpreise nur „ohne negative Begleiterscheinungen“.

Die Soziale Marktwirtschaft braucht nicht immer neue Attribute und Zielvorgaben, sie ist auch kein Regelwerk, das sich neu begründen lässt. Sie ist ein Ordnungsrahmen, der auf Freiheit und Verantwortung beruht und auf unveränderbaren Prinzipien steht. Eine zentralistische Industriestrategie, die willkürliche Festlegung von Zukunftsbranchen und Technologien und eine kleinteilig gesteuerte Subventionswirtschaft lassen diese wesentlichen Grundlagen erodieren. Die Abkehr von den ursprünglichen Prinzipien hat schwerwiegende Konsequenzen. Ganz offensichtlich ist die sozial-ökologische Marktwirtschaft kein performantes Wirtschaftssystem – in Rekordgeschwindigkeit erfolgte der Abstieg von der unverwüstlichen Wachstumslokomotive zum kranken Mann.

Doch das neue Leitbild zerstört nicht nur die ökonomische Schaffenskraft, Leistungsbereitschaft und Unternehmertum. Viel zu wenig machen wir uns bewusst, dass es ein grundsätzlicher Angriff auf das hinter der Sozialen Marktwirtschaft stehende freiheitliche Menschenbild ist. Nicht mehr die Bedürfnisse des Verbrauchers stehen im Mittelpunkt, sondern politische Pläne und Ziele.  Erhards Einsatz für den Wettbewerb, den Markt und die Koordination individuellen Handelns über das Preissystem war keine Nebensächlichkeit oder die Marotte eines Zigarre rauchenden Ökonomen. Es war die Schaffung der Voraussetzungen einer politisch freien Gesellschaft. Walter Eucken formulierte diese Einsicht unter dem Stichwort „Interdependenz der Ordnungen“. Die wechselseitige Bedingung von wirtschaftlicher und politischer Freiheit ist der eigentliche Grund dafür, dass die Soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung in der Bundesrepublik bislang nicht zur Disposition stand. Wer sie außer Kraft setzt, trifft keine legitime politische Entscheidung, sondern zerstört die akzeptierte Ordnung dieses Staates und dieser Gesellschaft.

Wer sich die kleinteilige Steuerung des hochkomplexen Wirtschaftsgeschehens anmaßt, schreckt auch nicht davor zurück, Menschen das Auto, die Heizung oder eine künstlich entworfene Sprache vorzuschreiben – er hält den Bürger letztlich für unmündig. Ludwig Erhard wehrte sich konsequent gegen jede Vorstellung, die Menschen die Eigenverantwortung abnehmen und damit Antriebskräfte lähmen würde. Heute wird der Bürger schon über die Begrifflichkeit „Bürgergeld“ zum Transferempfänger degradiert. Das Ergebnis: Erschreckend viele Bürger haben das Vertrauen in die politische Ordnung bereits im großen Maße verloren – sie haben genug von moralischen Imperativen und weltfremden Ideen. Wollen wir diesem Vertrauensverlust entgegenwirken, müssen die Rahmenbedingungen für eine freiheitliche Wirtschaftsordnung und einen starken Wirtschaftsstandort wieder in den Mittelpunkt der politischen Debatte rücken. Es geht um die Überzeugung, dass die Menschen mit ihren schöpferischen Kräften und ihrem Fleiß vieles zu leisten imstande sind.