Standpunkt Steiger: Der Treibstoff, der unser Land am Laufen hält
Wirtschaftspolitische Kolumne des Generalsekretärs des Wirtschaftsrates Wolfgang Steiger
Der Wirtschaftsstandort Deutschland braucht dringend einen Neustart. Wer das Erfolgsmodell der Sozialen Marktwirtschaft revitalisieren will, der muss Fehlentwicklungen in der Energie- und Wirtschaftspolitik korrigieren, Rahmenbedingungen verbessern und unternehmerische Freiräume wieder vergrößern. Doch das allein reicht nicht aus. Ebenso wie Freiheit, Eigenverantwortung und Wettbewerb untrennbar zur Sozialen Marktwirtschaft gehören, nimmt auch die Chancengerechtigkeit eine entscheidende Scharnierfunktion in unserer Wirtschaftsordnung ein. Sie ist die zentrale Voraussetzung dafür, dass die Soziale Marktwirtschaft für alle Menschen ein offenes Wirtschaftssystem ist, in dem es lohnt, sich für den eigenen Erfolg anzustrengen. Doch in Deutschland dominieren mittlerweile fast ausschließlich Verteilungsfragen die Debatte. Mit dramatischen Folgen: Eine Mehrheit der Bevölkerung ist laut Umfragen heute der Meinung, dass sich arbeiten in Deutschland nicht mehr lohnt. Der Umfang der Schattenwirtschaft steigt auf schwindelerregende 481 Milliarden Euro an. Und wir leisten uns im europäischen Vergleich eine unverzeihlich hohe Quote an Schulabbrechern.
Es gehört zur beständigen Hintergrundmusik einer jeden sozialistischen Utopie, eine Welt zu versprechen, in der alle Menschen gleich viel besitzen. Auch bei uns in Deutschland wird die vermeintliche wachsende Ungleichheit mit Wonne besungen. Auftrieb hat dieses Klagelied nicht zuletzt durch den Weltbestseller „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ des französischen Ökonomen Thomas Piketty erhalten. Dieser hatte - so schien es - den heldenhaften Beweis erbracht, dass die Kluft zwischen Reich und Arm in den letzten Jahrzehnten beständig gewachsen sei. Diagnose: Der Kapitalismus ist schuld. Therapievorschlag: Natürlich müsse jetzt den „Reichen“ etwas abgenommen werden, denn ihr Vermögenszuwachs erfolge schließlich auf Kosten anderer. Wie in Dauerschleife findet sich dieses Argumentations- und Skandalisierungsmuster auch in der deutschen Politik wieder. Zuletzt etwa bei dem Abschieds- und Scheidungsbrief des Grüne-Jugend-Vorstands an die eigene Partei: „Wir leben aber in einer Welt, (…) in der die Milliardäre immer reicher werden, während das Leben für große Teile der Bevölkerung schier unbezahlbar wird. Wer sich weigert, die Reichen zur Kasse zu bitten, lässt im Ergebnis die breite Bevölkerung bezahlen.“
Reihenweise Forschungsarbeiten haben Pikettys Erzählung von der stark gewachsenen Ungleichheit längst widerlegt und ihm fundamentale methodische Fehler nachgewiesen. Von seiner behaupteten Zunahme der Spitzeneinkommen um mehr als das Doppelte blieben kaum noch mickrige drei Prozent Zuwachs übrig. Doch der viel größere Denkfehler steckt in der Annahme, mit sozialpolitischem Interventionismus materielle Gleichheit und Massenwohlstand verbinden zu können. Der Vermögenszuwachs einer Gesellschaft beruht nicht auf Umverteilung oder darauf, dass irgendjemandem etwas weggenommen wird. Er beruht auf Wertschöpfung und Risikobereitschaft. Es gibt sogar einen Kausalzusammenhang zwischen wachsender Ungleichheit und ansteigendem Massenwohlstand. Der Priester und langjährige Professor an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom, Martin Rhonheimer, spricht aus, was heute viele in unserer Gesellschaft vergessen zu haben scheinen: „Wer seinen Reichtum durch produktives Wirtschaften vermehrt und dabei überproportional reicher wird, ohne anderen etwas wegzunehmen, sondern sogar deren Wohlstand anhebt – das ist die Logik des Kapitalismus –, der tut nichts Ungerechtes, sondern etwas für die Allgemeinheit außerordentlich Nützliches.“
Wer monoton die angebliche Ungerechtigkeit der Ungleichheit in den Fokus stellt, dem ist Gleichheit offenbar wichtiger als die Schaffung von effektivem Wohlstand. Mit Sozialer Marktwirtschaft hat all dies rein gar nichts zu tun. Die Vision von Ludwig Erhard war nicht so zu verstehen, dass der Staat durch geschickte Umverteilung „Wohlstand für alle“ organisieren könnte. Erhard orientiert sich stattdessen am Freiheitsideal und lässt den Menschen Raum zur Selbstverwirklichung, fordert aber auch Eigenverantwortung und die Bereitschaft, sich bietende Chancen zu ergreifen. Sein Credo war: „Ich will mich aus eigener Kraft bewähren; ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge du, Staat, dafür, dass ich dazu in der Lage bin.“
Und genau dafür muss der Staat auch wieder mehr sorgen. Entscheidend für die Soziale Marktwirtschaft ist die Herstellung gerechter Startchancen. Der Zugang zu Bildung und Ausbildung ist hier zentral. Wir können uns die katastrophalen Entwicklungen, wie sie zuletzt durch die erschütternden Pisa-Ergebnisse deutlich wurden, nicht länger leisten. Die Lernverluste zerstören die Chancen der Einzelnen, etwa in Form von geringeren Beschäftigungsmöglichkeiten und Einkommen und sie verringern gleichzeitig das Wirtschaftswachstum und damit das zukünftige Wohlstandsniveau unserer Gesellschaft.
Ebenso kommt es darauf an, dass gerade jungen Menschen, die motiviert ins Leben starten und sich ihre Träume verwirklichen wollen, kein Stoppschild vor die Nase gehalten bekommen. Egal, ob als Handwerker oder Akademiker - es gilt die zu unterstützen, die aufstiegsorientiert sind und arbeiten wollen. Es ist mit dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit keineswegs zu vereinbaren, dass es in wesentlichen Einkommensbereichen leistungsfeindliche und geradezu absurde über mehrere tausend Euro breite Schneisen gibt, in denen mehr Brutto kaum mehr Netto bedeutet.
Die Soziale Marktwirtschaft ist in den Augen vieler Bürger gerade deshalb attraktiv, weil sie die Aussicht bietet, durch eigene Anstrengungen die persönlichen Lebensumstände positiv beeinflussen zu können und an den Früchten der eigenen Leistungen teilzuhaben. Das Aufstiegsversprechen und auch der Aufstiegswille sind der Treibstoff, der unser Land am Laufen hält. Nur wenn der Grundsatz „Aufstiegschancen für alle“ wieder in den Mittelpunkt rückt, kann die Soziale Marktwirtschaft ihr Versprechen „Wohlstand für alle“ einlösen.