Standpunkt Steiger: Die Schuldenbremse, eine Provokation und Maos Badehose
Die wirtschaftspolitische Kolumne des Generalsekretärs des Wirtschaftsrates Wolfgang Steiger
Wohldosiert ist die Provokation ein bewährtes politisches Mittel. Auch das kreative Gestalten der Regeln und des Umfeldes zum eigenen Vorteil ist durchaus gängige Praxis. Doch eine überzogene Kombination aus beidem ist eine sichere Rezeptur, um das Vertrauen zwischen Partnern nachhaltig zu beschädigen. So empfing etwa der chinesische Staatspräsident Mao 1958 den Kremlchef Chruschtschow in Badehose und bestand darauf, das Treffen ausgerechnet beim Schwimmen in Maos privatem Hallenbad abzuhalten - wohlwissend, dass der Bergmann Chruschtschow kaum schwimmen konnte und deshalb Schwimmflügel anlegen musste. Obwohl sich Chruschtschow nichts anmerken ließ, empfand er diesen unkonventionellen Empfang als Beleidigung. Die weiteren geplanten Treffen mit Mao während seines Peking-Aufenthalts wurden abgesagt und er reiste erbost vorzeitig ab.
Mit seinen Vorschlägen zur Einsetzung der Schuldenbremsen-Reformkommission lässt nun auch Finanzminister Lars Klingbeil Wasser in den Pool laufen. Als selbstbewusst kann man noch auslegen, dass Klingbeil seiner deutlich schwächeren SPD mit fünf Sitzen ebenso viele Plätze einräumt wie der Union. Doch Klingbeil will darüber hinaus auch den Linken und den Grünen je einen Sitz in der Kommission zuweisen. Dadurch sind nicht nur die Schuldenbremsen-Gegner sichtbar überrepräsentiert. Vor allem zieht der Finanzminister damit auch die Linke auf das gestalterische Spielfeld - wohlwissend, dass sein Koalitionspartner hier weiterhin einen Unvereinbarkeitsbeschluss hat. Die tiefe inhaltliche Zusammenarbeit an einer gemeinsamen Verfassungsänderung fällt sicher nicht unter die Kategorie „formale Frage“, wie zuletzt die Fristverkürzung bei der Kanzlerwahl.
Die Regierungsparteien haben sich im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, einen Gesetzentwurf zur Reform der Schuldenbremse zu erarbeiten. Der zu erwartende Modus hierfür wäre, zunächst Vorschläge innerhalb einer schwarz-roten Kommission zu entwickeln, diese dann im Koalitionsausschuss zu beraten und anschließend ein Gesetz in den Bundestag einzubringen und dort für entsprechende Mehrheiten zu werben. Das bewusste Abweichen von diesem Weg ist durchaus eine Provokation à la Maos Badehose. Doch nicht nur die strukturellen Aspekte dieses Vorschlags irritieren, sondern vor allem auch die inhaltliche Begleitmusik und das dahinter durchscheinende Wirtschaftsverständnis geben Anlass zu größter Sorge.
Laut Klingbeil sei es das Ziel der Kommission, der Bundesregierung neue finanzielle Spielräume zu eröffnen, denn massive Investitionen seien „der Schlüssel, mit dem eine dauerhafte Erhöhung des Wachstumspotenzials der deutschen Volkswirtschaft gelingen kann“. Es sei betont: Klingbeil redet hier von Spielräumen, die zu den unlängst beschlossenen gewaltigen Sondervermögen und Schuldenvehikeln hinzukommen sollen. Dabei ist genau diese Vorstellung, dass ohne politische und schuldenfinanzierte Investitionen eine Volkswirtschaft nicht wachsen könne, bereits ein Kern des Problems. Wir befinden uns doch gerade inmitten solcher gewaltigen politischen Stimulus-Programme und das Ergebnis ist eine bedrückende Stagnation. Ob das europäische Konjunktur- und Wachstumspaket Next Generation oder Habecks grüne Transformation – unfassbar hohe Summen werden von Industriepolitikern, die sich für klüger als die Märkte halten, allokiert. Die versprochenen Wachstumswunder blieben jedoch immer aus.
Doch trotz dieser verheerenden Bilanz bleiben die Fiskalregeln wie die Schuldenbremse die negativen Projektionsflächen. Sind die Schultoiletten in Deutschland in einem schlechten Zustand, ist die Schuldenbremse schuld – dabei stellt sich niemand die Frage, ob diese überhaupt für die Gemeinden gilt. Bricht eine Brücke zusammen, steht fest: Unterinvestition wegen Schuldenbremse. Dabei wird übersehen, dass die deutsche Staatsausgabenquote sich in den vergangenen Jahren auf einem historischen Höchststand bewegt hat. Außerdem müsste eine nachhaltige Finanzpolitik Ersatzinvestitionen zum Erhalt der Infrastruktur ohnehin nicht mit Schulden, sondern aus laufenden Einnahmen abdecken. Bleiben die Unternehmensinvestitionen aus, liegt es nicht an schlechten Rahmenbedingungen wie hohen Energiepreisen, lähmender Bürokratie oder leistungsfeindlichen Abgabelasten, sondern an der Schuldenbremse, die verhindert hat, dass der Staat Investitionen „anreizt“. Selbst die Höhe der in den verschiedenen Töpfen nicht abgerufenen Mittel lässt niemanden aufhorchen.
Warum verfallen wir trotz dieser niederschmetternden Performanz politischer Programme immer wieder in das gleiche Argumentationsmuster, es brauche bloß mehr staatliche Ausgaben und Interventionen, um entschlossen und schuldenfinanziert Zukunft gestalten zu können? Das ZEW kritisiert, dass es in Deutschland eine inputorientierte Sichtweise auf staatliche Ausgaben gebe. Das bedeutet, dass derjenige als guter Sozial-, Klima- oder Wirtschaftspolitiker gilt, der viel Geld für diese Bereiche ausgibt. Eine kritische Bewertung der Wirksamkeit dieser staatlichen Ausgaben bleibt dagegen meistens aus. So gibt es hierzulande zwar hin und wieder Empörung, wenn die spektakulären Flops von unverantwortlichen Fehlinvestitionen in vermeintliche Zukunftsfelder wie Batteriezellenfabriken sichtbar werden, ein Bewusstsein wie dramatisch die Multiplikator-Effekte und Wachstumsziele der selbsternannten transformativen Angebotspolitik der Ampel trotz eines unfassbar teuren Subventionsregimes verfehlt wurden, ist jedoch kaum vorhanden. Es ist eben keineswegs so, dass dort, wo „Investition" oder „Zukunftsausgabe“ draufsteht, tatsächlich messbar das Wachstum und damit die Steuereinnahmen erhöht werden. Gerade auch bei den nun gepriesenen Infrastrukturausgaben sollte vor zu hohen Wachstumserwartungen gewarnt sein. Ein Großteil sind notwendige Sanierungsmaßnahmen, die das Wachstumspotenzial nicht erhöhen, sondern lediglich vorhandene Kapazität erhalten.
„Wir wissen, was wir tun müssen – wir wissen nur nicht, wie wir wiedergewählt werden könnten, wenn wir es getan haben.“ Dieses Zitat von Jean-Claude Juncker passt auf die Situation in Deutschland und verdeutlicht, warum wir gerade jetzt eine wirkungsvolle Schuldenbremse benötigen. Strukturreformen kosten kein Geld, aber sie können sehr wohl Wählerstimmen kosten, wie Schröders Agenda-Politik gezeigt hat. Heute entscheidet die Bevölkerungsgruppe der Boomer die Wahlen. Für die Politik gibt es deshalb einen Anreiz, gerade dieser Gruppe keine schmerzvollen Reformen zuzumuten. Die Botschaften, länger arbeiten und gleichzeitig ein geringeres Rentenniveau akzeptieren zu müssen, sind nach Adam Riese zwar angebracht, aber eben wenig populär. Viel attraktiver erscheint da die Versuchung, die Lasten über neue Schulden intergenerativ zu verschieben. Die Schuldenbremse verhindert, dass der fiskalische Spielraum, den Deutschland heute noch hat, schon in der Gegenwart vollständig aufgebraucht wird.
„Deutschland muss ins Risiko gehen“, sagt Prof. Jens Südekum, der ökonomische Berater von Lars Klingbeil mit Blick auf immer größere Schuldenberge. Doch in einer Marktwirtschaft ist es gerade nicht der Staat, der finanzielle Risiken eingehen soll, es sind die Unternehmer, weil bei ihnen Handlung und Haftung zusammenfallen. Deutschland hat kein Einnahmeproblem, sondern ein massives Ausgabenproblem für nicht investive Zwecke, die keineswegs zur Erhöhung des Potenzialwachstums beitragen. Gelingt es uns nicht, den Bundeshaushalt in Zukunft stärker wirkungsorientiert zu steuern, dann drohen die neuen Schulden am Ende mehr Kosten als Nutzen zu bringen, weil sie nicht die Wirksamkeit für Wachstum und Steuereinnahmen entfalten, auf die sich die Legitimation für die hohen zusätzlichen Schulden stützt. Es bleiben dann lediglich höhere Zinsausgaben und Bonitätsverlust. Umso mehr braucht es bereits im bestehenden Haushalt sowie bei den Mitteln des Sondervermögens eine Priorisierung auf wachstumswirksame Ausgaben, präzise definierte Ziele und glaubwürdige Evaluationen - erfolglose Programme müssen rasch identifiziert und wieder gestoppt werden können. Vor allem aber nutzen höhere Schulden nichts, wenn die Reformen für einen wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstandort nicht angegangen werden. Im Volksmund nennt man so etwas rausgeschmissenes Geld.