Cookie-Einstellungen

Standpunkt 02.08.2024
Drucken

Standpunkt Steiger: Europa braucht eine Saulus-Paulus-Wandlung

Wirtschaftspolitische Kolumne des Generalsekretärs des Wirtschaftsrates Wolfgang Steiger

Das Europäische Projekt steht unübersehbar am Scheideweg. Vor einem Jahrzehnt war die EU noch der größte Wirtschaftsraum der Welt. 2008 lag das BIP der EU-Staaten sogar dann noch vor den USA, wenn man Großbritannien rausrechnet. Mittlerweile hat sich das Verhältnis ins Gegenteil gedreht und die Wirtschaftskraft in den USA beträgt ein Drittel mehr. Die EU fällt unübersehbar gegenüber globalen Konkurrenten aus China und den USA zurück. Sowohl bei wichtigen Standortindikatoren als auch bei Schlüsseltechnologien wird der Abstand größer. Dieser Wandel wird längst im Alltag sichtbar: Telefonierte man früher mit Handys des finnischen Technologieführers Nokia, sind es heute Mobiltelefone aus USA, Südkorea oder China. Fuhr man früher weltweit mit Stolz deutsche Autos, verlieren sie heute im Gleichschritt Marktanteile und Status.

Und die nächsten Innovationswellen? Laut einer Studie der australischen Denkfabrik ASPI ist China mittlerweile in 54 von 64 kritischen Technologien führend. Die USA haben in den restlichen Kategorien wie etwa Quanten-Computer die Nase vorn. Rohstoffe, Talente, Patente, Energie, Kapital - Europa bleibt zunehmend nur die Zuschauerrolle. Gleichwohl suggerieren viele politische Akteure, mit ein paar Milliarden Euro hier und ein paar EU-Förderprogrammen dort, könne man schnell wieder an die Spitze zurückkommen. So wurde der EU-Green Deal als „Europas Mondlandung“ gefeiert. Die erstmalige gemeinsame Schuldenaufnahme im großen Stil über das EU Next Generation-Programm wurde als „kopernikanische Wende“ gepriesen. Beides sollten den europäischen Wachstumsmotor durchstarten lassen. Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Es fehlt den politischen EU-Programmen nicht an großen Worten, es fehlt ihnen an Durchschlagskraft. Wohlstand lässt sich eben nicht mit großzügigen Krediten gleichsetzen und die Herausforderungen mangelnder Wettbewerbsfähigkeit lassen sich nicht durch das reflexartige Zuschütten mit staatlichem Geld oder politisches Mikromanagement beheben.

Ursula von der Leyens erste Amtszeit hat sich den zweifelhaften Titel „Regulierungskommission“ verdient. Was Europa nun jedoch dringend braucht, ist eine Kommission der Wettbewerbsfähigkeit. Doch gelingt die notwendige Saulus-Paulus-Wandlung, die in wesentlichen Teilen einen Bruch mit alten Prioritäten erfordert?  Aus den Schwerpunkten, die Kommissionspräsidentin von der Leyen bei ihrer Wiederwahl vor dem Europäischen Parlament skizzierte, lässt sich jedenfalls noch keine klare Linie ablesen. Positiv ist sicherlich das Bekenntnis zum Bürokratieabbau. Dies mit einem eigenen Vizepräsidenten für Bürokratieabbau anpacken zu wollen, ist jedoch bereits ein ausgesprochen bürokratischer Ansatz. Es braucht schlicht einen Belastungsstopp. Denn die harte Realität ist, dass der Gipfelpunkt der Bürokratielasten bei den Unternehmen noch gar nicht angekommen ist. Die Umsetzungsfrist der meisten Richtlinien beträgt zwei Jahre. Das heißt, eine Vielzahl von Altlasten der letzten Legislatur bahnt sich gerade ihren Weg und Berichtspflichten etwa zu Lohntransparenz oder Nachhaltigkeit werden erst noch als zusätzliche Belastungen einschlagen. Mit den Richtlinien über Europäische Betriebsräte sowie zu hochwertigen Praktika sind weitere Mehrbelastungen erst kürzlich auf den Weg gebracht worden.

Bürokratie fängt an der Spitze an. Statt neue Kommissare auszurufen, sollte vielmehr die Anzahl der Kommissare von 27 auf 18 reduziert werden. Mit dem Vertrag von Lissabon hat sich die EU dazu verpflichtet, genau dies bis 2019 umzusetzen. Laut Europäischem Steuerzahlerbund würden damit Milliarden Euro eingespart. Insbesondere gilt das für den nun angekündigten Kommissar für Wohnungsbau. Bundesbauministerin Klara Geywitz jubelte zwar: „Bezahlbares Wohnen in allen EU-Staaten kommt jetzt ganz oben auf die Agenda der EU-Kommission. Genau da gehört es hin.“ Doch hier wird Problembewusstsein lediglich suggeriert - die Wohnungspolitik liegt überhaupt nicht in der europäischen Zuständigkeit und die notwendigen Instrumente besitzt die Kommission ebenfalls nicht. Ein Thema erlangt doch nicht dadurch höhere Priorität, weil man es auf die nächsthöhere Verwaltungsebene verschiebt. 

Es gibt eine Reihe offensichtlicher Handlungsnotwendigkeiten, die die neue Kommission anpacken muss. Eine besondere Signalwirkung hat sicherlich, das kategorische Verbot der Verbrennertechnologie. Es steht wie ein Mahnmal für die fehlende Technologieoffenheit, die dem Wirtschaftsstandort Europa schadet und dem Klimaschutz nichts bringt. Hier muss Europa schnell die Kraft für eine entschlossene Kurskorrektur aufbringen. Auch der Schutz der Außengrenzen bleibt ein zentrales Thema für den europäischen Zusammenhalt. Personenfreizügigkeit im Inneren erfordert am Ende des Tages zwangsläufig funktionierenden Außengrenzschutz und ein gemeinsames Verständnis in der Einwanderungs- und Asylpolitik. „Europa muss sich rechnen“, hat es Prof. Gabriel Felbermayr auf den Punkt gebracht. Wirtschaftliche Kraft gibt nach Innen Legitimation und nach Außen ermöglicht sie globalen Einfluss. Es gilt deshalb, die Kraft des europäischen Binnenmarktes zu nutzen, damit Wachstum für alle Regionen erzeugt werden kann. Europa hat enorme Potenziale im Bereich der europäischen Sicherheitspolitik, in der Vertiefung der Energieunion oder der Gestaltung des digitalen Ordnungsrahmens. 

Schließlich müssen bei der Investitionsfähigkeit die Rahmendaten angepasst werden. Allein die KI-Investitionslücke zwischen den USA und der EU hat sich laut Rechnungshof in den letzten Jahren mehr als verdoppelt. Das betrifft sowohl den öffentlichen als auch den privaten Sektor. 2025 muss die Europäische Kommission einen Vorschlag für den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen vorlegen. Bislang sind zwei Drittel des EU-Budgets in Agrarsubventionen und Strukturhilfen allokiert. Es braucht fraglos eine Priorisierung der Mittel in Richtung Zukunftsthemen. Anders als die USA haben wir in der EU zudem keinen wirklichen gemeinsamen Kapitalmarkt. Um das Potential privater Investitionen auszuschöpfen, muss das Projekt der Kapitalmarktunion endlich vorankommen. Auf jeden Fall muss Europa offen bleiben für den Welthandel. Ein Aufbau von Handelsbarrieren oder eine Industriepolitik gegen andere Wirtschaftsräume würden Wohlstand kosten und weder zu einer Wirtschaftsstruktur der Hidden Champions passen, noch aufgrund des Mangels an Energie und Rohstoffen durchhaltbar sein.

Nicht zuletzt wird sich die Zukunftsfähigkeit und der Zusammenhalt Europas auch daran entscheiden, ob es gelingt die bedenkliche Sehnsucht nach dauerhaften europäischen Schulden abzuwehren. Gerade aus Frankreich mehren sich nach den jüngsten Wahlen die Rufe nach noch mehr Staatsausgaben und Schulden. Kühne Forderungen gibt es genug: Jean-Luc Mélenchon gibt zum Besten, dass die EZB Frankreich im Zweifel ohnehin retten müsste. Der frühere IWF-Chefvolkswirt Olivier Blanchard will das Inflationsziel auf drei Prozent erhöhen. Und der linke Ungleicheitsforscher Thomas Piketty ruft die EZB dazu auf, doch gleich sämtliche staatliche Schuldtitel in den Notenbankbilanzen einfach abzuschreiben. 2,5 Billionen Euro würden wie von Zauberhand frei und könnten in einen „sozialen und ökologischen Sanierungsplan“ gesteckt werden.  Schon jetzt leuchtet der europäische Schuldentragfähigkeitsmonitor bei Ländern wie Italien, Frankreich, Spanien und Belgien tiefrot. Zusammengenommen stehen hier Länder im kritischen Bereich, die über 50 Prozent der Wirtschaftsleistung der Euro-Zone repräsentieren. Doch der Stabilitätspakt wurde aufgeweicht und nach den neuen Regeln müssen Schulden- und Defizitsünder erst mittel- bis langfristig gegensteuern. Man darf es als Warnzeichen betrachten, dass Gold den Euro bei den weltweiten internationalen Reserven mittlerweile überholt hat.