Standpunkt Steiger: Im Traumland der Investitionslenkung
Wirtschaftspolitische Kolumne des Generalsekretärs des Wirtschaftsrates Wolfgang Steiger
Als der große Friedrich Schiller eines Tages während eines Theaterbesuches zusammenbrach, diagnostizierte sein Leibarzt, Dr. Huschke, ein „gewöhnliches rheumatisches Seitenstechfieber“, das leicht zu überstehen sei. Dr. Huschke verordnete eine Mixtur aus Spanischer Fliege, heute ein Potenzmittel, Blutegeln und der Wurzel der Serpentaria. Schiller begann zu fantasieren und starb noch in derselben Woche. Die Obduktion ergab: Die Todesursache war eine unbehandelte Tuberkulose. Auch Napoleon Bonaparte geriet nach seiner Verbannung auf Sankt Helena an Ärzte, die ihm mehr schadeten, als halfen. Durch eine Leber-Infektion erbrach sich der Ex-Kaiser massiv. Seine Ärzte verordneten ihm daraufhin nicht nur ausgerechnet ein Brechmittel, um die „schlechten Körpersäfte“ aus dem Leib zu treiben. Sondern sie verabreichten dem Hinscheidenden mit Quecksilberchlorid noch zusätzlich ein Abführmittel, das ihm endgültig den Rest gab. Falsche Diagnosen, kränker machende Therapien und nicht ernst genommene Beschwerden waren es, die die kreativsten Geister ihrer Zeit ins Grab brachten. Diese prominenten Beispiele aus der Medizin sollten auch der heutigen Politik eine Lehre sein. Manche Politiker wollen dem Wirtschaftsstandort Deutschland - fraglos ebenfalls ein hoch genialer Patient - offensichtlich schädliche Behandlungen verschreiben.
So stellen sowohl Olaf Scholz als auch Robert Habeck einen wundersamen Investitionsfonds in den Mittelpunkt ihrer jeweiligen wirtschaftspolitischen Vorschläge. Gespeist durch die angebliche „Reform“ der Schuldenbremse verspricht diese Wunderwaffe, neben vielen anderen Dingen, wie 15-Euro-Mindestlohn, sanierten Sportstätten und günstigem erneuerbaren Strom, auch Investitionen temporär mit einer 10-prozentigen Investitionsprämie zu fördern. Man muss es so deutlich sagen: Diese Vorschläge sind genauso unsinnig, wie einem bereits dehydrierten Patienten Brech- und Abführmittel zu verabreichen. Im Grunde sind sie der Versuch, sich vor anstrengender und schwieriger Prioritätensetzung bei den Staatsausgaben zu drücken. Wer auf mehr Schulden, weniger Marktmechanismen und die Übertünchung von Symptomen setzt, der verlässt sich auf ein höchst fragwürdiges Potenzmittel. So verbessert man die Wettbewerbsfähigkeit nicht. So fährt man vielmehr einen Wirtschaftsstandort mit Ansage gegen die Wand.
Es wird in Deutschland erst wieder mehr investiert, wenn sich die Rahmenbedingungen verbessern. Die Energiekosten sind ebenso zu hoch wie die Steuer- und Abgabenlasten. Das Ausmaß der Bürokratie erreicht längst ein dramatisches Niveau. Im Sozialstaat ist Korrekturbedarf dort überfällig, wo er Arbeits- und Leistungsanreize zerstört. Und es kann auch nicht sein, dass uns eine überhastete und unausgereifte Energiewende in die De-Industrialisierung treibt. Diese Missstände gilt es mutig anzupacken und nicht, die Symptome über immer neue Prämien, Fonds und Subventionen zu überdecken. Dass Steuersenkungen zu mehr Investitionen führen, ist empirisch gut belegt. Doch einer allgemeinen Senkung der Unternehmenssteuer erteilen Scholz und Habeck eine Absage. Begründung: Diese reize zu wenig Investitionen an. Die stattdessen vorgeschlagenen Investitionsprämien sind jedoch allenfalls in einer Phase konjunktureller Schwäche ein geeignetes Instrument. Bei strukturellen Problemen sind sie dagegen ein Ermöglicher für teure Mitnahmeeffekte und Treiber für mehr Bürokratie. Wieder maßt sich die Politik an, über die Zukunftsfähigkeit von Projekten richten zu können. „Damit käme Deutschland vollständig im Traumland der Investitionslenkung an“, warnt Prof. Lars Feld.
Die Reise in dieses Traumland hatte verschiedene Phasen – alle waren geprägt von einer unfassbaren ökonomischen Naivität und der fehlenden Bereitschaft, die Weichen in Richtung Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftswachstum zu stellen. Zunächst wurde die Bedeutung von Wirtschaftswachstum schon im Grundsatz skeptisch gesehen. Inspiriert von lächerlichen De-Growth-Bewegungen verkündete Robert Habeck in seinem ersten Bundeswirtschaftsbericht 2022, quantitatives Wirtschaftswachstum solle nicht mehr das vorrangige Ziel der Wirtschaftspolitik sein. Das Narrativ änderte sich bald. Fortan wurde versprochen, die interventionistische Transformation der Wirtschaft werde ein grünes Wirtschaftswachstum bescheren. Das blieb aus und es wurde immer offensichtlicher, dass fehlendes Wachstum oder gar wirtschaftliche Kontraktion Verteilungskonflikte verschärfen und dem Populismus in die Hände spielen. Nunmehr wird suggeriert, Investitionen und Wirtschaftswachstum würden ohne neue Schulden und kräftige staatliche Subventionen gar nicht möglich sein - was für ein vollkommener Unfug! Länder wie etwa Dänemark, Schweden oder die Schweiz haben niedrige Staatsschuldenquoten und leiden keineswegs an einer Schwäche privater Investitionen oder maroder Infrastruktur.
Wachstum braucht keine Staatsschulden. Kapital entsteht aus realen Ersparnissen, Innovationen und Wagnissen von Menschen – das ist die Basis des Produktionspotenzials und künftiger Einkommen. Staatsschulden dagegen können lediglich einen temporären Nachfrageboom erzeugen und damit den Auslastungsgrad des Produktionspotenzials verändern. Eine Schulden- und Subventionspolitik führt per Definition dazu, dass die Wettbewerbsfähigkeit gleich auf mehreren Ebenen geschwächt wird. Der Staat drückt sich vor anstrengender Reformpolitik und schwieriger Prioritätensetzung bei den Staatsausgaben und schmiert stattdessen einfach weiße Schulden-Salbe auf alle Probleme. Bei den Unternehmen wird der Produktivitätsdruck durch Subventionen reduziert, innovative Unternehmen werden faktisch behindert. Neben höheren Schulden wird der nächsten Generationen so ein großes Bündel ungelöster standortpolitischer Reformprobleme vor die Füße geschmissen.
Die Entwicklung in Europa ist ein eindrückliches Beispiel dafür. In den letzten 16 Jahren ist das BIP der USA um 94 Prozent gewachsen, während das nominale BIP der Europäischen Union nur um 11,2 Prozent gestiegen ist. Dies geschah in einer Zeit permanenter fiskalischer und monetärer „Konjunkturpakete“, einschließlich des Juncker-Plans und des EU Next Generation Fonds sowie negativer Nominalzinsen. Die heutige Stagnation in der Europäischen Union ist die Folge einer Kette von öffentlicher Ausgabenprogrammen, die eine Spur von Schulden und kein echtes Produktivitätswachstum hinterlassen haben.
Die Probleme des Wirtschaftsstandortes sind nicht fehlende Fonds, Subventionen oder Staatsausgaben. Es sind Mikromanagement, dirigistische Politikansätze und die Abkehr von den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft. Die deutsche Staatsausgabenquote bewegt sich auf einem historischen Höchststand. Und eine Politik, die selbst in der Rezession noch ihre Einnahmen erhöht, wird offensichtlich nicht kaputtgespart, sondern nimmt von den Lebenden. Was Deutschland braucht, ist eine Abkehr von Inflationismus, Interventionismus und Dirigismus. Eine umfassende Offensive der Wachstumspolitik muss endlich zur politischen Priorität werden.