Standpunkt Steiger: Kognitive Dissonanzen der Energiewende
Wirtschaftspolitische Kolumne des Generalsekretärs des Wirtschaftsrates Wolfgang Steiger
Deutschland ist der Pionier auf dem Weg in eine Welt niedriger CO2-Emissionen. Dieses Selbstbild wurde lange mit aller Kraft propagiert. Ex-Wirtschafts-Staatssekretär und Agora-Vordenker Patrick Graichen wollte „Energiewende - Made in Germany“ nicht nur zum Slogan einer neuen deutschen Exportoffensive machen, nein, es sollte nicht weniger als der sichtbare Markenkern und die spürbare Seele der neuen deutschen Industrie sein. Euphorisch rief auch Robert Habeck 2019 als damaliger Grünen-Vorsitzender aus: „Hey, wir bauen ein reiches Industrieland um. Wer macht mit?“. Und heute? Unternehmensinvestitionen fließen in einem nie dagewesenen Rekordtempo aus Deutschland ab, ganze Industrien verlassen den Standort aufgrund fehlender Wettbewerbsfähigkeit und es gibt immer noch keine Perspektive für eine bezahlbare und verlässliche Energieversorgung der nächsten Dekade. Und obwohl wir die Energiewende seit der Jahrtausendwende mit Hunderten Milliarden von Euro gefördert haben, war im letzten Jahr nur der tschechische und polnische Strom schmutziger als der deutsche. Doch warum tun wir uns eigentlich so schwer mit der offensichtlich notwendigen Kurskorrektur?
In seinem Buch „Die Kunst des klaren Denkens“ beschreibt Rolf Dobelli eindrucksvoll, wie schnell uns systematische Denkfehler zum Verhängnis werden können. Das Kapitel zu den kognitiven Dissonanzen beginnt er mit der Fabel des griechischen Dichters Äsop über den Fuchs und die Trauben. Vom Hunger getrieben, läuft ein Fuchs in den Weinberg. Der Fuchs greift, streckt sich und springt – doch alle Anstrengungen bleiben vergeblich, er kann die Trauben einfach nicht erreichen. Beim Weggehen rümpft er verächtlich die Nase und meint hochmütig: „Sie sind mir noch nicht reif genug, ich mag keine sauren Trauben.“ Mit erhobenem Haupt stolzierte er anschließend in den Wald zurück. Die kognitive Dissonanz ist der unangenehme Gefühlszustand, der entsteht, wenn Anspruch und Wirklichkeit immer weiter auseinanderklaffen. Als Ausweg aus dieser Situation beobachten Psychologen oft ein Phänomen, dass sie Dissonanzreduktion nennen. Statt das dissonante Verhalten einfach zu ändern, ist es leichter, den Widerspruch kleinzureden, abzulenken – oder gezielt Informationen zu suchen, die das dissonante Verhalten in ein besseres Licht rücken.Hierzu nur einige aktuelle Beispiele:
- „Die Energiewende sichert in Deutschland Arbeitsplätze und schafft neue. Sie trägt damit zum Wohlstand und zur Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands entscheidend bei“, bilanziert Wirtschaftsminister Habeck zufrieden. Dabei beobachten wir längst ein trügerisches Jobwunder, das einen gefährlichen Trend überdeckt. Während die Beschäftigtenzahl in privaten Unternehmen zurückgeht, stellt der Staat immer mehr Menschen ein - 45.000 mehr Personen als im Vorjahr arbeiten im öffentlichen Dienst. Gleichzeitig baute die Privatwirtschaft trotz Fachkräftemangel alleine zwischen 2020 und 2023 mehr als 80.000 Stellen ab. Dieser Trend hat fatale Auswirkungen auf Haushalt, Produktivität und Innovationskraft.
- Das grüne Umweltministerium Baden-Württemberg rühmte sich dieser Tage, dass es seine Solarausbauziele erreicht habe und dadurch die Erneuerbare Energien bereits die Leistung des abgeschalteten Kernkraftwerks Neckarwestheim II übertreffen würden. Was ein Unfug! Das Ministerium hat für diese Erfolgsrechnung die Nennleistung der Erneuerbaren ausgewiesen - also wieviel Strom die Anlagen maximal produzieren könnten. Dieser Wert liegt natürlich um ein Vielfaches über dem Wert der tatsächlich realisierten Erzeugung, da sich Windräder und Photovoltaik-Anlagen ja gerade dadurch auszeichnen, dass sie im Tagesverlauf und jahreszeitlich unterschiedlich stark - also fluktuierend - einspeisen, eben abhängig von den Windverhältnissen und der Sonneneinstrahlung. Um die Kernkraftwerke versorgungssicher zu ersetzen, müssten zudem entsprechende Speicher errichtet werden, die weiterhin nicht in Sicht sind. Die angebliche Erfolgsmeldung des schnellen Ausbaus im Realitätscheck: Ganze sechs neue Windenergieanlagen sind in Baden-Württemberg im ersten Halbjahr 2024 in Betrieb gegangen, eine wurde zudem erneuert. Um die Ziele zu erreichen, benötigt das Bundesland jedoch über 100 neue Windräder pro Jahr und das die nächsten 17 Jahre. Die genannte Erfolgsmeldung wurde still und leise wieder gelöscht.
- Außenministerin Annalena Baerbock betont unbeirrbar, dass die Energiewende in Deutschland ein Exportmodell für ausländische Staaten sei. Das Forbes Magazin, das Wall Street Journal und die Financial Times schreiben dagegen vom Selbstmord eines Wirtschaftsriesen, der Anatomie der De-Industrialisierung und einem ökonomischen Blutbad. Auch in Europa ist die deutsche Energiewende längst zum Spaltpilz geworden. Die schwedische Regierung hat unlängst beschlossen, keine Genehmigung für die geplante Gleichstromverbindung Hansa Powerbridge zwischen Schweden und Deutschland zu erteilen. Ein vernichtendes Zeichen des Misstrauens in die deutsche Energiepolitik. In Schweden wuchs die Angst, das Projekt würde nur die Strompreise in Schweden erhöhen und gleichzeitig die Ernüchterung verzögern, die in Deutschland unvermeidlich kommen muss. In Frankreich wurde die deutsche Energiepolitik von rechten und linken Parteien sogar massiv zur Wahlkampf-Mobilisierung genutzt. Das Rassemblement National etwa wollte sich aus dem europäischen Strommarkt zurückziehen und an Länder wie Deutschland keinen Strom mehr liefern. Das sollte Frankreich „sofort die Rückkehr zu einem französischen Strompreis ermöglichen“.
Es ließen sich viele weitere Beispiele hinzufügen, etwa die vermeintliche Entlastung durch den EEG-Wegfall, die sich nun zur tickenden Zeitbombe beim Bundeshaushalt entwickelt oder über angeblich günstige Stromgestehungskosten, die Systemkosten, Netzausbau und Back-up-Kapazitäten einfach nicht mitberücksichtigen. Doch das Fazit bleibt dasselbe: Egal, wie sehr wir den schlauen Fuchs spielen, die Trauben haben wir nicht gefressen. Umso dringender braucht es ein Umdenken. Mit Energie spielt man nicht. Sie ist die Grundlage allen Wohlstands. Wir müssen die Energiewende deshalb neu denken und mit marktwirtschaftlichen Instrumenten angehen - Wettbewerb und völlige Offenheit der dahinterstehenden Technologie sind dafür die notwendigen Leitlinien. Es gilt, den Emissionshandel zum primären Instrument des Klimaschutzes zu machen, denn er ist mit Markt- und Wettbewerbsmechanismen hochgradig kompatibel. Die Klimapolitik muss wie jedes andere Politikfeld letztlich von den Bürgern getragen werden und auf ihre freiwillige Zustimmung bauen – ordnungspolitische Grundprinzipien dürfen deshalb nicht länger unbeachtet bleiben.