Standpunkt Steiger: Nach dem Rauch
Wirtschaftspolitische Kolumne des Generalsekretärs des Wirtschaftsrates Wolfgang Steiger
In seinem viel beachteten Essay „Über Migration reden“ kritisierte Peter Graf von Kielmansegg bereits 2019 grundlegende Versäumnisse in der deutschen Migrationsdebatte. Wir hätten eine „Sprache der Mitte“, wie Kielmansegg sie nennt, im Mund führen müssen. Doch statt mit Respekt voreinander und Realismus in der Sache über ein Thema zu reden, welches unser Gemeinwesen fundamental betrifft, waren die letzten Jahre davon geprägt, sich mit ausgrenzenden Begriffen selbst die Möglichkeit zu nehmen, den wichtigen politischen Raum der Mitte zu besetzen.
Ein in der Demokratie üblicher Diskurs, was gewollt, verantwortbar, zumutbar und mit der Stimmung der Bevölkerung, des Demos, vereinbar ist, wurde nur völlig unzureichend geführt. Konzepte und Strategien, welche „die Bereitschaft zu helfen mit dem Willen zur Behauptung des Eigenen verbinden“, so Kielmansegg, blieben aus. Da die Mitte keine Orientierung bieten konnte, verlagerte sich die Diskussion an die politischen Ränder. Dort standen sich extreme Tendenzen derart pauschal gegenüber, dass sie keinerlei Ansatzpunkte für ein konsensuales Zueinanderfinden boten. Jeder erklärt jeden zum Populisten. „Gutmenschen“ schimpfen über „Rassisten“ und umgekehrt. Beide Seiten entziehen sich fortan der demokratischen Auseinandersetzung. Grüne und AfD haben diese Gegenpole im Parteienspektrum besetzt und dominierten damit lange die Debatte.
Unbestritten ist: Eine große Mehrheit der Bevölkerung möchte seit Jahren Kontrolle über die Zuwanderung haben. Doch trotz zahlreicher Versprechungen und durchaus auch einigen Initiativen, ist es bis heute nicht einmal im Ansatz gelungen, den Umfang zu kontingentieren, sich auf wirklich Schutzbedürftige zu konzentrieren und Rückführungen von Abgelehnten und Kriminellen zu organisieren. Während Länder wie Schweden oder Dänemark ihre Migrationspolitik längst grundlegend und restriktiv geändert haben, schallt aus Deutschland zu nahezu jedem Vorschlag reflexartig der Vorwurf zurück, hier werde versucht geltendes Recht zu brechen. Das setzt eine unheilvolle Dynamik in Gang. Denn wer sich auf diese Weise hinter dem „Recht“ versteckt, der vermittelt den Bürgern das Signal, einem Zustand ausgeliefert zu sein. Das erzeugt ein Gefühl der Ohnmacht und provoziert Wut. Eine strittige Rechtslage ist sicher keine überzeugende Begründung dafür, mit einem Politikwechsel erst gar nicht zu beginnen.
Das Thema Migration ist damit längst zur wesentlichen Vertrauensfrage für die deutsche Politik geworden. Nicht, dass es Zuwanderung gibt, ist der Nährboden für politische Polarisierung, sondern die vollkommen ungenügende politische Gestaltung. Wir haben über viele Jahre eine demokratische Nachfrage nach einem Produkt - der Gestaltung und Kontrolle von Zuwanderung - gehabt, dass in der politischen Mitte schlicht nicht ausreichend angeboten wurde. Der Gesetzentwurf der Union für eine konsequente Migrationspolitik und Merz „Fünf-Punkte-Plan“ waren nun nicht weniger als eine Disruption. Eine seit langer Zeit festgefahrene Stimmung und Debatte wurde mit einem Knall aufgewirbelt und wird nicht wieder zu dem Status ex ante zurückkehren. Das Gute an aufgeregten Zeiten ist, dass sich nach dem ersten Chaos bisweilen die Sicht klärt. Sobald sich der Rauch der Aufgeregtheit legt, muss es nun endlich gelingen einen klaren Kurs zu finden, der weder von der hysterischen Linken noch von einer sich radikalisierenden Rechten geprägt wird – zumal die Vorhaben der Union inhaltlich wenig kontrovers waren.
Eine liberale Ordnung ist ohnehin mit beiden Extrempositionen – Nationalismus und unkontrollierte Zuwanderung – nicht vereinbar. Offene Grenzen und der Verzicht auf Regeln sind nicht liberal, im Gegenteil. Freiheit braucht den Rechtsstaat. Wilhelm Röpke, einer der Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft, wies früh auf die berechtigten Schranken der Zuwanderung hin: „(...) jedes Land wird das Recht haben müssen, seine geistige und politische Tradition vor einem Zustrom von Einwanderern zu schützen, die sie durch Assimilationsunfähigkeit oder schon durch ihre bloße Masse in Frage stellen können.“ Zudem gilt das berühmte Verdikt von Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman: „Man kann nicht gleichzeitig freie Einwanderung und einen Wohlfahrtsstaat haben.“
Diese grundlegenden Zusammenhänge lassen sich nicht dauerhaft ignorieren. Die Überlastung der Aufnahmekapazitäten und die Folgen des Kontrollverlustes zeigen sich längst auf dem Wohnungsmarkt, im Bildungssystem, dem Arbeitsmarkt, dem Gesundheitssystem, der Kriminalstatistik und immer deutlicher im Haushalt. Allein das chronisch klamme Land Berlin gibt für die Unterbringung und Betreuung von Flüchtlingen mehr als 2,7 Millionen Euro aus - an jedem einzelnen Tag! Das Flüchtlingslager Tegel verschlingt knapp 250.000 Euro pro Tag nur an Kosten für die Sicherheitsdienste. Die dänischen Sozialdemokraten haben Migranten die Sozialleistungen um rund die Hälfte gekürzt. Die deutschen Sozialdemokraten haben dagegen für eine Erhöhung des Bürgergelds gesorgt, das inzwischen zur Hälfte Eingewanderten zugutekommt. In Deutschland werden Asylbewerber mit ihrer Anerkennung als Flüchtling einheimischen Grundsicherungsbeziehern gleichgestellt. In den letzten Jahren wurden jedoch mehr Asylbewerber abgelehnt als anerkannt. Auch bei dieser großen Gruppe der Nicht-Schutzberechtigten gibt es nirgends eine ähnlich großzügige Regelung wie hierzulande. Wer einmal in Deutschland angekommen ist, kann in aller Regel mit oder ohne Aufenthaltsrecht bleiben. Wer seine Ausreisepflicht nur lang genug ignoriert, für den werden neue Bleiberechte eingeführt.
Die israelfeindlichen Demonstrationen auf deutschen Straßen zeigen zudem überdeutlich: Der Grad der Integrierbarkeit von Zuwanderern lässt sich nicht allein an der Beschäftigungsquote und der Bereitschaft zum Spracherwerb messen - die Frage nach der Leitkultur gehört wieder auf die Tagesordnung. Es geht darum, die Rechts- und Werteordnung als Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu vermitteln. Es ist kein Verbrechen, sondern eine Notwendigkeit, von jedem Flüchtling und Einwanderer eine klare Bejahung zur Verfassungsordnung des Grundgesetzes einzufordern. Wir müssen klar machen, dass Integration nur so funktioniert und das von uns entsprechend erwartet wird. Staatskunde muss ebenso fester Bestandteil des Lehrplans wie der Sprachunterricht sein. Genauso deutlich gilt es festzulegen, was wir auf keinem Fall tolerieren können. Wir können keine Paralleljustiz, Ghettoisierung, Frauenfeindlichkeit, Kinderehen und in aller Klarheit auch keinen Antisemitismus akzeptieren.
Auch bei dem Thema Staatsbürgerschaft brauchen wir einen neuen Realismus. Das Bürgerrecht ist das kritischste Gut, das ein Staat zu vergeben hat. Kaum etwas ist für seine Stabilität langfristig derart entscheidend wie die Zusammensetzung des Staatsvolks. In Artikel 116 des Grundgesetzes ist eindeutig festgelegt, wer zum Staatsvolk gehört: Deutsche Staatsangehörige - das beinhaltet eben bei weitem nicht jeden, der in diesem Land lebt. Der Begriff gehört zum normativen Fundament unserer Republik. Mit der Zugehörigkeit sind Rechte und Pflichten verbunden. Jedes Urteil in der Bundesrepublik wird „Im Namen des Volkes“ gesprochen. Alle Staatsgewalt „geht vom Volke aus“. Der Amtseid des Bundeskanzlers bezieht sich ganz konkret auf diesen Begriff. Er schwört dort seine „Kraft dem Wohle des deutschen Volkes“ zu widmen. Die Anforderungen für die Einbürgerung wurden in den letzten Jahren immer weiter gesenkt – zeitlich und inhaltlich. Personen, die ab 2014 als Asylbewerber nach Deutschland kamen, machen davon in steigender Zahl Gebrauch. Wurden 2020 etwa 6700 Syrer eingebürgert, waren es 2023 bereits über 75.000. Die Zahl dürfte in den kommenden Jahren auf hohem Niveau bleiben. Ehegatten und Kinder können zudem ohne Mindestaufenthaltsdauer gleich mit eingebürgert werden. Ein Land, das liberal und tolerant bleiben will, muss sehr darauf achten, wen es einbürgert. Die Staatsbürgerschaft muss wieder am Ende der Integration stehen und nicht am Anfang.
Klar ist auch: Mit dem Nationalismus kann, wer die Position von Freiheit, Marktwirtschaft und Demokratie vertritt, ebenfalls nichts anfangen. Zurecht hat Friedrich Merz hier unmissverständliche Grenzen gezogen. Das Primat des Politischen, die Verachtung des Individuums und damit einhergehend die Verbündung mit dem Kollektivismus sind mit diesem Freiheitskonzept unvereinbar. Friedrich August von Hayek hat vor der Brücke vom Nationalismus zum Kollektivismus gewarnt: „Von Gedanken an unsere Industrie oder unsere Naturschätze ist es nur ein kleiner Schritt zu der Folgerung, dass diese nationalen Vermögenswerte im nationalen Interesse gelenkt werden sollen.“ Genau diesen Irrweg hat die AfD sichtbar eingeschlagen. Die AfD Thüringen kritisiert in ihrem Wahlprogramm etwa die „einseitig auf Globalisierung ausgerichtete, heimatvergessene Außenpolitik“ und strebt an, „systemrelevante Branchen zurückzuholen“.
Der von der AfD geforderte Protektionismus, die Abschottung und der angedrohte „Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union“ würde nicht nur dem Wirtschaftsmodell Deutschland unbeschreiblichen Schaden zufügen. Eine Politik, die den eigenen Kapitalstock vorsätzlich und ideologiegetrieben zerstört, bleibt zudem eine ökonomische Dummheit. Unabhängig davon, ob die Grünen funktionierende Kernkraftwerke zerstören oder die AfD sich auf Windkraftanlagen einschießt, wie in Alice Weidels erschreckender Parteitagsrede: „Und ich kann Ihnen sagen, wenn wir am Ruder sind, wir reißen alle Windkraftwerke nieder. Nieder mit diesen Windmühlen der Schande.“
Es sei nochmal betont: Die heutigen Zustände sind keine zwangsläufige Folge von Migration. Sie sind jedoch eine logische Folge der Art und Weise, wie in Deutschland seit 2015 mit Migration umgegangen wird. Die Stimmung, dass es in Deutschland so wie bisher nicht weitergehen kann, ist mit Händen greifbar. Umso wichtiger bleibt das Anliegen von Friedrich Merz, dieses Thema in der politischen Mitte glaubhaft und konsequent zu gestalten.