Standpunkt Steiger: Warum sich das Herzensprojekt Europa rechnen muss?
Die wirtschaftspolitische Kolumne des Generalsekretärs des Wirtschaftsrates Wolfgang Steiger
Die neue EU-Kommission nimmt die Arbeit auf und verspricht, die Wettbewerbsfähigkeit in den Mittelpunkt ihres Handelns zu stellen. Gut so. Denn, ohne ein Europa das ökonomisch funktioniert, lässt sich nicht einlösen, was sich die Menschen von Europa versprechen: Sicherheit, Stabilität und Wohlstand. „Europa muss sich rechnen“, bringt Prof. Gabriel Felbermayr einen wichtigen Zusammenhang auf eine einfache Formel. Doch dort, wo andere Wirtschaftsräume in den vergangenen Jahren intensive Interessenspolitik für ihren Standort betrieben haben, dominierte in Europa zunächst eine hektische Rettungspolitik und anschließend eine vermeintliche Moralpolitik. Beides erweist sich als folgenschwer und ist kein Modell für die Zukunft. Umso mehr braucht es jetzt einen konsequenten Kurswechsel, der weit über Lippenbekenntnisse und kosmetische Maßnahmen hinausgehen muss. Es braucht den Mut, Fehlentscheidungen der vergangenen Jahre zu korrigieren. Es braucht die Entschlossenheit, Europa in den wichtigen Zukunftsfeldern voranzubringen. Und es braucht einen neuen Geist, der sich auf das zurückbesinnt, was Europa lange erfolgreich gemacht hat - eine Zusammenarbeit auf der Grundlage von Freiheit, Wettbewerb und Subsidiarität.
Falsche Weichenstellungen: Die wirtschaftspolitische Statik in Europa hat sich in den letzten Jahren grundlegend verändert. Das Krisenmanagement im Zusammenhang mit der Finanz- und Eurokrise hat das Haftungsprinzip ebenso ausgehebelt, wie die für eine funktionierende Marktwirtschaft essenzielle Steuerungs- und Disziplinierungswirkung des Zinses. Damit wurde nicht nur eine absurd hohe Staatsverschuldung ermöglicht, sondern es verschwand auch der Zwang zu Innovation und Produktivitätswachstum, die Seele des Wettbewerbs. Hier liegen wesentliche Ursachen der heutigen Wachstumsschwäche. Die letzte Kommission nahm nicht minder schwerwiegende Weichenstellungen vor. Statt dem Klimawandel mit einer CO2-Bepreisung und den Mechanismen des Marktes zu begegnen, schlug die Stunde der Zentralisierer, Regulierer und Bürokratiegläubigen. Eine staatliche Industriepolitik sollte es richten. Der „Green Deal“ mit seinen gewaltigen Subventionen und eine planwirtschaftlich inspirierte Taxonomie verdrängten die Reste eines Denkens, das an die problemlösende Kraft der Freiheit glaubt, an die Koordination individueller Entscheidungen auf dem Markt und an das Innovationspotential des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren.
Wie oft wird beklagt, dass wir kein Silicon Valley in Europa haben? Aber wie wenig reden wir darüber, dass wir etwa Tuttlingen haben, die Welthauptstadt der Medizintechnik. Und in Europa gibt es viele Cluster wie Tuttlingen mit großartigen und innovativen Hidden Champions. Doch was machen wir? Wir erlassen EU-Medizinprodukteverordnung, die die Zulassung in Europa so aufwendig und teuer macht, dass viele Hersteller ihre Medizinprodukte lieber nur noch in den USA anmelden und zunehmend vom europäischen Markt nehmen - ganze Produktlinien verschwinden aus dem Sortiment. Oder schauen wir auf Taxonomy, Lieferkettenrichtlinie und Verbrennerverbot – hinter all diesen Regulierungen stehen fraglos hehre Absichten. Aber eine dauerhafte Politik gegen den Kapitalstock können wir uns weder leisten, noch hilft sie dem Klima.
Neue Initiativen: Vor dem Hintergrund drohender Zuspitzungen in der Außen- und Handelspolitik ist der Binnenmarkt nicht weniger als die ökonomische Lebensversicherung für Europa. Ebenso liegt hier der Schlüssel, um neue Wachstumskräfte freizusetzen. Umso unverzeihlicher ist es, wie wenig Fortschritte bei wesentlichen Punkten zu verzeichnen sind. Digitalisierung und Dekarbonisierung erfordern eine Investitionsdekade. Wir reden zwar seit langem über eine Kapitalmarktunion, doch leisten uns weiterhin die Ineffizienz von einer Vielzahl zersplitterter nationaler Kapitalmärkte. In einer Phase, in der weltweit Protektionismus und nationale Abschottung auf dem Vormarsch sind, müsste gerade Europa ein spürbares Gegengewicht bilden. Doch Freihandelsabkommen werden mit sachfremden Zielen und Nachhaltigkeitsforderungen überfrachtet und es gelingt Europa nicht einmal, mit seinen engsten Wertepartnern Handelspakte zu schließen. Wir brauchen wieder die Einsicht, dass wirtschaftlicher Erfolg nicht von der politischen Größe abhängt, sondern von freien Märkten und der Offenheit von Volkswirtschaften.
Unbedingt zur Priorität ernennen, müssen wir auch die Schaffung von leistungsfähigen Infrastrukturen und Verkehrsnetzen. Schienenwege, Straßen, Wasserwege, Häfen und Flughäfen sind die Lebensadern des Binnenmarktes. Bezeichnend: Die Entfernung von Shanghai nach Peking ist etwa doppelt so weit, wie die von Berlin nach Wien - 1220 km gegenüber 680 km. Per Zug benötigen sie für die chinesische Strecke jedoch nur die Hälfte der Zeit - vier statt acht Stunden. Neben der Digitalisierung und der Energie- und Klimapolitik bietet auch mehr Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik echte Chancen. Der EU-Rat hat im vergangenen Jahr den Weg für gemeinsame Beschaffungsprogramme geebnet. Damit lassen sich erhebliche Effizienzpotenziale bei Entwicklung, Einkauf und Wartung von militärischem Gerät erschließen. Die USA kommen mit 30 Waffensystemen aus, während in den nationalen Armeen der EU sechsmal so viele verschiedene Systeme verwendet werden.
Neuer Geist: Viele der genannten Initiativen hätten nur dann eine Chance, wenn sie gemeinsam von der deutsch-französischen Achse initiiert und getragen würden. Dieses Führungsduo war zuletzt eine Leerstelle und braucht dringend einen Neustart, auch wenn die Rahmenbedingungen schwierig sind. Frankreichs Regierung ist gerade an dem Versuch gescheitert, das ausufernde Defizit auf immer noch viel zu hohe fünf Prozent zu reduzieren. Die französische Politik droht schon bald heftig mit den Anleihemärkten zusammenzustoßen. Die Renditen zehnjähriger französischer Staatsanleihen lagen sogar schon höher als die vergleichbaren griechischen Anleihen. Aus dem politisch derzeit stillstehenden Deutschland kommen ebenfalls beunruhigende Signale. Zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte ist der sogenannte Swap Spread für Deutschland negativ. Auch das spricht für wachsende Investorenbedenken - der Markt antizipiert offensichtlich ein verstärktes Angebot von Bundesanleihen und damit einhergehend höheren Kosten des Schuldendienstes.
Die Europäische Integration ist eine historische Leistung, die es zu bewahren und auszubauen gilt. Ihr Erfolgsrezept war die Überzeugung, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit freier Bürger Wohlstand schafft– nicht suprastaatlicher Dirigismus und bevormundende Bürokratien. Europas Erfolg liegt gerade in seiner Vielfalt und dem Wettbewerb. Die Logik des Wettbewerbs folgt dabei zwei Dynamiken. Der innereuropäische Wettbewerb treibt die Mitgliedstaaten zu Höchstleistungen und Innovationen an. Dafür müssen wir aber auch Unterschiede zulassen, um von den besten Lösungen lernen zu können. Die Addition dieser inneren Stärken trägt dann zu der Wettbewerbsfähigkeit im globalen Kontext bei. Sicherlich hat Europa nicht mehr die Pole-Position wie in den 1990er Jahren. Doch gemeinsam ist Europa weiterhin auf Augenhöhe mit den großen Wirtschaftsräumen wie den USA oder China. Wir müssen aber aufhören, unsere Stärken selbst zu unterminieren.