Standpunkt Steiger: Zwischen Fußpilz und Protein-Kur - Europas Suche nach dem Wirtschaftskurs
Wirtschaftspolitische Kolumne des Generalsekretärs des Wirtschaftsrates Wolfgang Steiger
„Es ist, wie wenn man bei einem Patienten mit Herzinfarkt und Fußpilz zuerst den Fußpilz behandelt,“ mit diesem drastischen Bild beschreibt Prof. Peter Bofinger, ehemaliges Mitglied des Sachverständigenrats, seine Sichtweise auf die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und Europas. Der Herzinfarkt steht für den enormen Investitionsbedarf, den diverse Transformationen angeblich dringend benötigen. Der Fußpilz ist die wenig charmante Beschreibung für die Schuldenbremse. Das Bild soll die vermeintlich falsche Priorisierung veranschaulichen. Unverantwortlich – so Bofingers Aussage - wer in diesen bewegten Zeiten nicht auf kräftige Schuldenprogramme setzt, sondern kleinkariert auf finanzpolitische Stabilität beharrt. So jemanden fehle doch offensichtlich der Blick fürs große Ganze. Hier wird nicht nur ein gefährliches Zerrbild aufgebaut. Vielmehr erfolgt mitten hinein in eine Phase der laufenden Produktionsstättenverlagerung und Nettokapitalabflüsse der Aufruf, einen falschen und erfolglosen Weg mit erhöhtem Tempo fortzusetzen.
Auffällig ist zunächst, dass die Argumentationstiefe weitestgehend auf dem Niveau eines Minderjährigen verharrt, der einen zurückhaltenden Altersgenossen zum Alkoholgenuss überreden will: „Komm! Es machen doch alle!“ Bei Prof. Bofinger ist es etwa der Verweis auf den amerikanischen „Inflation Reduction Act“. Oder gleich der bewundernde Blick nach China: „Ein Blick nach China zeigt, dass dort die erfolgreiche Entwicklung von Zukunftstechnologien nicht durch Bürokratieabbau, sondern durch massive staatliche Subventionen vorangetrieben wurde. Dabei hat es die Politik verstanden, frühzeitig die richtigen Leitindustrien zu identifizieren.“ Verblüffend, wie häufig China dieser Tage als wirtschaftspolitisches Vorbild ins Feld geführt wird – viele Grüne verweisen mit Blick auf die Schwierigkeiten bei VW reflexartig auf die vermeintlichen Erfolge des chinesischen Marktes für Elektromobilität. Ohne Schuldenbremse hätten auch wir längst in planwirtschaftlicher Manier unseren Automobilstandort der Zukunft aufbauen können, so die naive Erzählweise. Dabei müsste spätestens bei dem Blick auf die deutlich geringeren chinesischen Stromkosten, die den Betrieb eines E-Autos dort attraktiv machen, die Frage erlaubt sein, welche Rolle eigentlich der dahinterstehende ideologiefreie Energiemix spielt.
Ohne Frage gibt es Dinge, die andere Wirtschaftsstandorte zurzeit besser machen und von denen man lernen kann. Doch hemmungslose staatliche Schuldenprogramme und subventionierte Planwirtschaft taugen keineswegs als Vorbilder. Zur Wahrheit gehören auch die Kosten und Folgewirkungen, die gerne verschwiegen werden: Entlastungspakete für die einen sind eben immer auch Belastungspakete für die anderen– entweder über Abgaben, Steuern oder Kaufkraftverlust. In den USA vergrößert sich die Staatsschuld in einem atemberaubenden Tempo – sie wächst alle 100 Tage um eine Billion Dollar! Die Kosten des Schuldendienstes übersteigen mittlerweile sowohl die Sozialausgaben als auch das Verteidigungsbudget und sind längst zum größten Posten im Etat der USA geworden. In der Geschichte vieler Länder hat es häufig den Beginn eines Niedergangs markiert, wenn die öffentlichen Ausgaben für den Schuldendienst die Ausgaben für den Verteidigungshaushalt übersteigen, stellte der angesehene britische Historiker Niall Ferguson unlängst die geschichtliche Bedeutung dieses Wendepunktes heraus.
In China wird ein erheblicher Anteil der Subventionen schlicht vergeudet. Denn vieles, was China angreift, endet in grotesken Überkapazitäten. Der Immobiliensektor steht dafür als Mahnmal. Es wurde dermaßen viel gebaut, dass ein Überhang von knapp sieben Jahren besteht - 90 Millionen Wohnungen im Land stehen leer. Ähnliche Dynamiken entstehen im Automobilsektor. Analysen gehen davon aus, dass von den knapp 170 chinesischen Marken langfristig nur knapp zehn Prozent finanziell überlebensfähig sind. Das Land leistet sich zudem mehr als 150.000 staatseigene Betriebe, die häufig hoch defizitär sind. Sowohl in den USA als auch in China haben sich gewaltige Ungleichgewichte aufgebaut, die sich dauerhaft nicht aufrechterhalten lassen. Beide Länder haben im Vergleich zu Europa keineswegs mit geringeren strukturellen Herausforderungen zu kämpfen.
Umso wichtiger ist es, dass Europa sich im internationalen Wettbewerb auf seine Stärken besinnt. Der kürzlich vorgestellte Draghi-Bericht kann dafür nur sehr eingeschränkt als Kompass dienen. Zu stark atmet der Bericht den gleichen Geist zentralplanerischer Selbstüberschätzung, der auch das deutsche Wirtschaftsministerium in den letzten Jahren durchdringt. Draghi erhebt schuldenfinanzierte staatliche Investitionen zum Allzweckmittel der Wirtschaftspolitik und spricht sich für eine europäische Industriepolitik aus, die sich anmaßt, zentral zukunftsfähige Industrien und Leitmärkte identifizieren zu können. Ein „Rezept zur säkularen Stagnation“ urteilt etwa Daniel Lacalle, der zu den 20 einflussreichsten Ökonomen der Welt gezählt wird. Nassim Taleb, Urheber der Black-Swan-Theorie, geht sogar noch weiter: „Was Draghi vorschlägt ist wie eine Protein-Kur im Pflegeheim zu verschreiben. Die zusätzlichen Schulden werden die Probleme nur schlimmer machen.“
Vollkommen unverständlich ist zudem, dass Draghi gemeinsame EU-Schulden als Modell für die Zukunft ausschmückt. Die Erfahrungen mit dem EU-Next Generation Fonds zeigen, dass weder die erhofften Wachstumswirkungen noch die versprochenen ökologischen Impulse auch nur annährend eingetroffen sind. Die Mittel werden viel zu langsam abgerufen. Sie versickern in dubiosen Projekten oder werden in Verwaltungen und Ministerien gesteckt, wie der EU-Rechnungshof kritisiert. Dadurch werden leider die positiven Elemente des Draghi-Berichts überlagert, wie die richtigen Appelle zur Stärkung des Binnenmarktes, zum entschlossenen Abbau von Regulierung und der Selbstbeschränkung bei neuen EU-Gesetzen. Der Standort Europa leidet nicht unter zu wenig Staatseingriffen, Regulierungen, Subventionen und politischen Masterplänen. Europas Stärke ist doch gerade seine innere Vielfalt. Diese Struktur hat die Fähigkeit voneinander zu lernen und die Flexibilität auf neue Herausforderungen zu reagieren schon eingebaut. Es braucht nur wieder mehr Mut zu Marktwirtschaft, Wettbewerb und zur Freiheit.