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01.11.2023
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Migration: Leitkultur mit europäischen Werten und Standards notwendig

Wirtschaftsrat bezieht Stellung über die aktuelle Migrationspolitik in der Bundesrepublik
©@Adobe Stock (Mario Hoesel)

Bundeskanzler Olaf Scholz und Innenministerin Nancy Faeser haben erneut schärfere Abschieberegelungen angekündigt. Schon im Ampel-Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2021 wurde eine „Rückführungsoffensive“ versprochen, Anfang September diesen Jahres rief der Bundeskanzler dann zu einem „Deutschlandpakt Migration“ auf. Doch entgegen der vollmundigen Ankündigungen ist weder die Begrenzung der irregulären Migration noch ein Anstieg der Ausweisungen festzustellen - im Gegenteil. Das Thema Migration ist längst zu der wesentlichen Vertrauensfrage für die deutsche Politik geworden. Eine große Mehrheit der Bevölkerung möchte seit Jahren Kontrolle über die Zuwanderung haben. Doch trotz zahlreicher Versprechungen ist es bis heute nicht einmal im Ansatz gelungen, den Umfang zu kontingentieren, sich auf wirklich Schutzbedürftige zu konzentrieren und Rückführungen von Abgelehnten zu organisieren. Nicht, dass es Zuwanderung gibt, ist der Nährboden für politische Polarisierung, sondern die vollkommen ungenügende politische Gestaltung. Die nun notwendigen Maßnahmen gehen deutlich über konsequente Abschiebungen hinaus.

Anreize

„Es gibt keine Zaubermaßnahme“ hat SPD-Chef Lars Klingbeil vor Scheinlösungen in der Migrationsdebatte gewarnt. Das ist jedoch kein Argument, um in immer höherem Tempo in die falsche Richtung zu laufen. Während etwa Dänemark den Familiennachzug eingeschränkt hat, hat die Ampelregierung den Familiennachzug erleichtert. Die dänischen Sozialdemokraten haben Migranten auch die Sozialleistungen um rund die Hälfte gekürzt. Die deutschen Sozialdemokraten haben dagegen für eine Erhöhung des Bürgergelds gesorgt, das inzwischen zur Hälfte Eingewanderten zugutekommt. In Deutschland werden Asylbewerber mit ihrer Anerkennung als Flüchtling einheimischen Grundsicherungsbeziehern gleichgestellt.

Die Frage nach Leistungsunterschieden für Asylzuwanderer in Europa ist der Elefant im Raum. Es ist geradezu absurd, wie wenig über die im europäischen Vergleich unterschiedliche Leistungshöhe für anerkannte und abgelehnte Asylbewerber diskutiert wird. Der griechische Migrationsminister Dimitrios Kairidis sprach es kürzlich ungeschminkt an, Deutschland biete Asylsuchenden Unterstützungsleistungen, von denen nicht einmal ein griechischer Staatsbürger träumen würde. Fakt ist, dass in den letzten Jahren mehr Asylbewerber abgelehnt als anerkannt wurden und, dass es bei dieser großen Gruppe der Nicht-Schutzberechtigten nirgends eine ähnlich großzügige Regelung wie hierzulande gibt. Während sich andere EU-Staaten auf den Minimalanspruch von Nahrung, Kleidung und Unterkunft beschränken, steigen in Deutschland die Bezüge häufig bereits nach 18 Monaten über Analogleistungen auf das übliche Grundsicherungsniveau und wer seine Ausreisepflicht lange genug ignoriert, für den werden neue Bleiberechte eingeführt. Um den Anreiz zu reduzieren, einzureisen und dann der Familie in der Heimat Geld zu schicken, wird seit langem die Umstellung von Geld- auf Sachleistungen – etwa via Chipkarte – diskutiert. Doch Grünen-Staatssekretär Michael Kellner hält das für „Blödsinn und Drangsalierung“. Dabei müsste dieser Ansatz nicht nur strikt umgesetzt werden, sondern mit Maßnahmen gegen Ausweichbewegungen wie Schwarzarbeit und Kriminalität flankiert werden.

Abkommen

Länder wie Kanada zeigen, wie Flüchtlingspolitik transparent, geplant und sozial verträglich funktionieren kann. Hier wird strikt nach einer Kontingentlösung entschieden, die ausschließlich von humanitären Gesichtspunkten bestimmt ist - es kommen also nur Personen, die wirklich Schutzbedürftig sind. Auch Deutschland und Europa muss es gelingen, von der irregulären Migration zu einer gesteuerten zu kommen. Die Überlastung der Aufnahmekapazitäten und die Folgen des Kontrollverlustes zeigen sich längst auf dem Wohnungsmarkt, in dem Bildungssystem, dem Arbeitsmarkt, dem Gesundheitssystem und der Kriminalstatistik. Doch solange das Problem der Rückführung nicht gelöst ist, wird die Situation unverändert bleiben. Umso wichtiger sind Abkommen mit Herkunfts- und gerade auch Transitstaaten samt einer Erweiterung des Prinzips der sicheren Drittstaaten. Das Verbindungsprinzip in den europäischen Asylregeln besagt, dass man Menschen nur in solche sicheren Drittstaaten zurückbringen kann, zu denen sie eine bestimmte Verbindung haben. Die Bundesregierung weigert sich jedoch, anders als die meisten anderen EU-Länder - die Überstellung in Transitländer in dieses Prinzip zu integrieren. Notwendig wäre jedoch nicht nur die Transitlösung festzuschreiben, sondern ähnlich wie es Großbritannien und Australien machen, auch mit weiteren Drittstaaten Abkommen zu schließen, die keine Transitländer sind.

Leitkultur

Die israelfeindlichen Demonstrationen auf deutschen Straßen nach dem Terror der Hamas zeigen überdeutlich: Der Grad der Integrierbarkeit von Zuwanderern lässt sich nicht allein an der Beschäftigungsquote und der Bereitschaft zum Spracherwerb messen - die Frage nach der Leitkultur, nach europäischen Werten und Standards gehört wieder auf die Tagesordnung. Es geht darum, die Rechts- und Werteordnung als Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu vermitteln. Dazu gehören fraglos Grundsätze wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Umgang mit Minderheiten und das Gewaltmonopol des Staates, um nur einige zu nennen. Es ist keine Drangsalierung, sondern eine Notwendigkeit, von jedem Flüchtling und Einwanderer eine klare Bejahung zur Verfassungsordnung des Grundgesetzes einzufordern. Wir müssen klar machen, dass Integration nur so funktioniert und das von uns entsprechend erwartet wird. Staatskunde muss ebenso fester Bestandteil des Lehrplans wie der Sprachunterricht sein. Genauso deutlich gilt es festzulegen, was wir auf keinem Fall tolerieren können. Denn Toleranz wird zur Ignoranz, wenn sie Intoleranz hinnimmt. Wir müssen deshalb genauso definieren, wo die Grenzen der Toleranz sind. Wir können keine Paralleljustiz, Ghettoisierung, Frauenfeindlichkeit und in aller Klarheit auch keinen Antisemitismus akzeptieren. 

Lesen Sie auch die Positionierung des Wirtschaftsrates in der WELT.