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Bericht
28.06.2021
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Aus den Ländern (Bremen): Geflüchtete - Chance oder Herausforderung des 21. Jahrhunderts?

Veranstaltung zum Thema Migration mit Chris Melzer, UNHCR; dem Bremer Bürgermeister Dr. Andreas Bovenschulte und dem Herzchirurgen Dr. Umeswaran Arunagirinathan
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Es war uns eine große Freude, unsere Mitglieder und Gäste zur ersten Großveranstaltung im Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven persönlich begrüßen zu können. Nach dem Eintreffen gab es eine einstimmende Führung durch die Ausstellung, einschließlich der gerade neu eröffneten Sektion über Einwanderung nach Deutschland. Das Ambiente des Auswandererhauses und die Auseinandersetzung mit Flucht und Migrationsgeschichten der letzten Jahrhunderte, gaben den Einstig für die weitere Veranstaltung. Im New-York-Saal begrüßte der Vorsitzende der Sektion Bremerhaven Philipp von der Heide die Gäste. Er erläuterte die Aktualität der Thematik und wies darauf hin, dass die Frage von Migration und Flucht eben so viel Aufmerksamkeit benötige, wie die aktuelle Corona-Pandemie.


Chris Melzer, Pressesprecher des Flüchtlingshilfswerks UNHCR, berichtete im Anschluss über die Arbeit seiner Organisation. Es sei wichtig, klar zwischen Flüchtlingen und Migranten zu unterscheiden. Ein Flüchtling sei durch den ersten Artikel der Genfer Flüchtlingskonvention definiert als eine Person, die sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt oder in dem sie ihren ständigen Wohnsitz hat, und die wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung hat und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht vor Verfolgung nicht dorthin zurückkehren kann. Der UNHCR sei für diese Menschen zuständig und habe den Auftrag, sie zu beschützen.

 
2010 gab es 40 Millionen Flüchtlinge auf der Welt, aktuell seien es 82,4 Millionen, mehr als einem Prozent der Weltbevölkerung, dabei handele es sich ausschließlich um Flüchtlinge nach der Definition der Genfer Flüchtlingskonvention. Er komme gerade von einer längeren Reise aus Äthiopien, so Melzer, einem Land, das lange als Stabilitätsanker in der Region galt und jetzt in einen Bürgerkrieg abzurutschen drohe. Sollte es soweit kommen, werde dies die Flüchtlingslage noch einmal empfindlich verschärfen, und die Auswirkungen seien dann sicherlich auch in Europa zu spüren. Das aktuell größte Flüchtlingscamp der Erde, Kutupalong, habe mit 650.000 Bewohnern so viele Einwohner wie Bremen, auf einer Fläche so groß wie ein Fünftel von Bremerhaven. Dies sei nur ein Beispiel, um die Dimensionen einmal zu verdeutlichen.


Der UNHCR finanziere sich durch Beiträge von Staaten und habe ein Budget von etwa 4,3 Milliarden Dollar, das entspreche 42 - 43 Dollar pro Flüchtling und pro Jahr. Dieses Geld komme vor allem aus den USA, deren Beitrag 42 Prozent des gesamten Etas ausmache. Die EU und Deutschland seien mit 11 bzw. 9 Prozent auf Platz zwei und drei der Geber. Dabei sei der Beitrag Deutschlands mit 390 Millionen Dollar etwa so groß wie der Betrag, den das Land Berlin pro Jahr für seine Feuerwehr ausgebe; trotzdem sei der deutsche Beitrag einer der größten.


Deutschland sei auch auf Platz fünf der größten Flüchtlingsaufnahmeländer, was der UNHCR sehr begrüße. Es sei neben einer humanitären auch eine politische Organisation. In Deutschland sei er vor allem als Wächter der Genfer Flüchtlingskonvention tätig. Die Genfer Flüchtlingskonvention stehe zunehmend unter Beschuss, und Länder wie Dänemark und Ungarn würden sie sogar innerhalb Europas aushöhlen. Es sei gut, sich in Erinnerung zu rufen, dass vor nicht allzu langer Zeit Millionen Deutsche Flüchtlinge waren. Die Fluchtgeschichten der eigenen Eltern und Großeltern, von willkürlicher Gewalt, Ablehnung und Traumata, die in vielen deutschen Wohnzimmern erzählt worden sind, würden aktuell von Menschen in anderen Teilen der Welt durchlebt. Es bleibe zu hoffen, dass diese Menschen ihre Fluchtgeschichte auch einmal ihren Kindern und Enkeln erzählen können.

Sebastian Loskant, Redakteur der Nordsee-Zeitung, der die Podiumsdiskussion moderiert, stellte die Gäste des Abends vor, neben Chris Melzer Dr. Andreas Bovenschulte, Bürgermeister der Freien Hansestadt Bremen, und den Herzchirurgen Dr. Umeswaran Arunagirinathan.


Dr. Bovenschulte berichtete von den Erfahrungen seiner Eltern, die aus Schlesien geflohen waren. Seinen ersten beruflichen Kontakt mit dem Thema Flüchtlinge habe er als Bürgermeister von Weyhe im Jahr 2015 gehabt, als viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Er habe damals in über 25 Regionalkonferenzen bei der Bürgerschaft immer wieder um Verständnis und Offenheit werben müssen, was nicht immer leicht gewesen sei. Die Situation damals sei ähnlich intensiv gewesen wie die Corona-Pandemie heute.

 
Dr. Umeswaran Arunagirinathan kam als unbegleiteter Flüchtling aus Sri Lanka nach Deutschland. Er habe nie geplant, seine Familie zu verlassen; sie seien fünf Kinder gewesen, und er sei immer gerne zur Schule gegangen. Bis zur 6. Klasse war dies auch möglich, danach habe er beim Geldverdienen helfen müssen und betrieb mit 12 Jahren einen Fruchtstand an der Straße. Als 12-jähriger Junge in Sri Lanka sei er sehr gefährdet gewesen. Der 1983 ausgebrochene ethnische Konflikt zwischen Singhalesen und Tamilen, welche eine Unabhängigkeit für die tamilischen Siedlungsgebiete forderten, gefährdete Dr. Umeswaran Arunagirinathan sehr. Selbst Tamile, drohte ihm mit 12 Jahren entweder die Zwangsrekrutierung für die LTTE (Liberation Tigers of Tamil Eelam) oder die Tötung durch die Singhalesischen Truppen.


Seine Mutter wollte, dass er nach Deutschland zu seinem Onkel gehe, der seit den 1970er Jahren in Hamburg lebte. Die Familie habe einem Schlepper 15.000 DM bezahlt, und am 06. Januar 1991 habe ihm seine Mutter eröffnet, dass er heute abgeholt werde. Die Reise ging über Singapur,  Dubai nach Togo, wo er ein halbes Jahr in einer engen Behausung verbrachte. Ohne ausreichend Schlafplätze und jeden Tag mit trockenem Baguette, aber in Sicherheit vor dem Krieg in der Heimat. Nach sechs Monaten ging es dann nach Madrid und von dort aus nach Frankfurt am Main. Er sei froh gewesen und habe zugleich Angst gehabt, als er in Deutschland ankam.


Er habe viele Unterstützer gehabt, die sich seiner angenommen und ihm geholfen hätten, in Deutschland Wurzeln zu schlagen. Diese Menschen seien es auch gewesen, die sich für ihn eingesetzt haben, wenn wieder einmal ein Abschiebungsbescheid zugestellt worden sei. Drei davon habe er insgesamt bekommen und er sei von ihnen jedes Mal wieder entwurzelt worden. Ihn verbinde besonders viel mit Hamburg, auch weil dort viele der Menschen waren, die sich für ihn eingesetzt haben. 


Dr. Andreas Bovenschulte führte aus, im Jahr 2020 seien 11.000 Menschen im Land Bremen angekommen, davon seien 900 Flüchtlinge gewesen und 10.100 Migranten, aus dem EU- und Nicht-EU-Ausland. Die Trennung zwischen Migranten und Flüchtlingen sei in der Theorie gut, aber in der Praxis nicht wirklich umsetzbar. Die Themen Asyl und andere Aufenthaltsrechte seien auch in der behördlichen Zuständigkeit vermischt. Lange sei es die Einstellung gewesen, wer keinen Asylstatus habe solle nicht in den Arbeitsmarkt integriert werden, da ohnehin die Rückführung anstehe. Da dies aber Jahre dauern könne, sei man dazu übergegangen, die Beschränkungen zu lockern und das Arbeiten zu ermöglichen. Man müsse Perspektiven bieten und vor allem den Menschen mit Asylanspruch Möglichkeiten geben, etwas aus ihrem Leben zu machen. Ein wichtiger Punkt sei hier auch die Schulbildung der Flüchtlingskinder, doch der hohe Anteil von Kindern mit einem Flucht- oder Migrationshintergrund in den Bremer Schulen mache die adäquate Betretung schwer. Es gebe Schulen, wo 90 % der Kinder einen Migrationshintergrund hätten. Durch zum Teil mangelnde Bildung der Eltern und mangelnde Sprachkenntnisse sei es schwer, die Bildungsinhalte zu vermitteln. Hizu komme neben dem generellen Lehrermangel die schlechte finanzielle Situation Bremens. Deshalb sei es ohne die Zivilgesellschaft gar nicht zu schaffen. Dies sei eine gesamtgesellschaftliche Kraftanstrengung.

 

Chris Melzer erklärte, eine der Aufgaben des UNHCR sei es auch, Regierungen zu beraten. Der UNHCR sei in 135 Ländern der Erde aktiv, nicht überall gäbe er Lebensmittel aus und helfe den Flüchtlingen. In Deutschland sei dies zum Beispiel nicht Teil seiner Aufgabe. Die Versorgung der Flüchtlinge übernehme hier der deutsche Staat. Ihn persönlich trieben viele Dinge an für seine Tätigkeit an, zum einen die privilegierte Situation, in der man sich in Deutschland befinde, was eine Art Schuldgefühl bei ihm auslöse.


Zum anderen treffe man auch einfach beeindruckende Menschen, die ihr Leben in der Heimat hatten und nie gedacht hätten, einmal Flüchtling seien zu müssen. Wie die UNHCR-Botschafterin und olympische Schwimmerin Yusra Mardini, sagte: „Wir kommen nicht aus dem Nichts.“

Dr. Umeswaran Arunagirinathan meinte, die Bürokratie in Deutschland sei zwar notwendig, doch er habe in der neunten Klasse begonnen, als Tellerwäscher zu arbeiten, da dies der einzige Job gewesen sei, für den er eine Arbeitserlaubnis bekam. Das sei für ihn auch vollkommen in Ordnung gewesen, er hätte nur gerne mehr gearbeitet, um sich neben der Schule seinen Unterhalt selber zu verdienen; dies habe das Amt ihm aber verwehrt. Für Dr. Arunagirinathan war es unverständlich, warum er nicht arbeiten durfte. Schließlich habe er schon mit 12. Jahren in Sri Lanka seinen eigenen Obststand betrieben und habe sein eigenes Geld verdient, aber mit 16 Jahren in Deutschland sei ihm dies verboten worden. Es müsse den Menschen mehr zugetraut werden.

 
Natürlich gebe es auch Rassismusprobleme, aber er persönlich habe dies kaum erfahren. Was nicht heißen solle, dass nicht andere durch Vorurteile und Rassismus in ihrer Entwicklung behindert würden. Insgesamt habe sich die Gesellschaft in den letzten 30 Jahren, die er nun bereits in Deutschland sei, aber enorm weiterentwickelt. Der Dialog und der Kontakt zwischen den Kulturen und den Menschen seien wichtig.


Es sei natürlich schwer, eine Gesellschaft zu bilden, die aus vielen unterschiedlichen Religionen und Nationalitäten zusammengesetzt sei. Dabei sei es wichtig, eine „gemeinsame Farbe“ zu finden, so Dr. Arunagirinathan. Das könne auch die deutsche Sprache sein. Außerdem sei es nach seiner Erfahrung wichtig, möglichst schnell in den Arbeitsmarkt zu kommen. Das habe er auch seinem Neffen gesagt, als dieser nach Deutschland kam. Er solle sich möglichst schnell einen Job suchen, denn so würde er die Regeln der Gesellschaft und die Sprache lernen. Für gelungene Integration brauche es mehr Austausch, ein stärkerer Praxisbezug der Schulen wäre dafür ein Beispiel. Projekte, wie die Arbeit in Altersheimen, würden den Flüchtlingen den Kontakt zur deutschen Gesellschaft geben, ihnen Regeln und Sprache näher bringen, aber auch Vorurteile der deutschen Gesellschaft gegenüber eben diesen Flüchtlingen abbauen.

 
Dr. Bovenschulte ergänzte, wir bräuchten gemeinsame Werte und Überzeugungen und dabei müsse verhindert werden, dass es zu einer Segregation komme. Dass zum Beispiel Flüchtlinge aus Kostengründen immer in den billigsten Wohngegenden untergebracht seien, ginge nicht. So käme es nie zum Austausch, es sei wichtig, dass eine gewisse Durchmischung stattfinde, um Austausch und Integration zu ermöglichen.

 
Jobs zu schaffen, sei enorm wichtig, um auch die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben. Man müsse Arbeitsperspektiven für alle Menschen schaffen, und da seien auch Ansiedlungen von Konzernen wie Amazon im Raum Bremen willkommen. Arbeit sei wichtig für die Integration. Am Ende sei jedoch jeder für das Ergreifen seiner eigenen Chancen selbst zuständig, die Aufgabe der Politik sei es, diese Chancen zu ermöglichen, damit jeder die Möglichkeit habe, das Beste aus seinem Leben zu machen, so Bovenschulte.