Cookie-Einstellungen

Bericht
27.07.2022
Drucken

„Lesen Sie Putins Reden!“

David McAllister nimmt in Bremerhaven eine Einordnung der europäischen Politik vor dem Hintergrund geänderter geopolitischer Rahmenbedingungen vor.
©Wirtschaftsrat

André G. H. Kiwitz konnte als stellvertretender Sprecher der Sektion Bremerhaven mit David McAllister einen Vertreter „aus dem inneren Zirkel der Macht“ begrüßen, der über „Hintergründe und direkte Zugänge“ zu den Entscheidern auf allen politische Ebenen verfüge. Er betonte in seiner Einleitung, dass Europa Privatpersonen und Unternehmen in gleicher Weise betreffe. Daher seien auch die Herausforderungen, vor denen Europa stehe, für jedermann spürbar: Inflation, Verschuldung, Krieg.

Felix Diekmann-Lange begrüßte die 30 Gäste als Geschäftsführer und Hausherr der Georg Diekmann Automobile GmbH & Co. KG. David McAllister sei nicht nur sein Nachbar; während des Studiums habe er sogar in dessen Abgeordnetenbüro gearbeitet. Diekmann-Lange konnte zudem die niedersächsischen Landtagskandidaten Dr. Denis Ugurcu und Claus Seebeck begrüßen.

Erwartungsgemäß hob David McAllister zu einer Tour d`Horizon zu den aktuellen europapolitischen Themen an. Dabei blickte er zunächst auf das Jahr 2019 zurück, in dem Ursula von der Leyen zur neuen Kommissionspräsidentin gewählt wurde. In ihrer Antrittsrede hob sie damals sieben Themenkomplexe hervor, die im Mittelpunkt der Kommissionsarbeit stehen sollten:

  • Klimaneutralität (European Green Deal)
  • Digitalisierung
  • Rahmen für die Agrarpolitik ab 2023
  • Migrationspolitik
  • Stärkung der europäischen Demokratie
  • Rechtsstaatlichkeit  (Stichworte Polen und Ungarn)
  • Brexit

Beim Klimaschutz gebe es das Programm Fit for 55, Gesetze zur Digitalisierung seien auf dem Weg, die Agrarreform beschlossen. Kaum Fortschritte gebe es dagegen bei einer einheitlichen Migrationspolitik. Einen „Schub für die Demokratie“ macht McAllister hingegen durch die erfolgreiche „Konferenz zur Zukunft Europas“ aus. Der Rechtsstaatsprozess stehe aufgrund der ungarischen Klage derzeit auf dem gerichtlichen Prüfstand. Und der Brexit sei erfolgt, wenn auch Details wie das Nordirlandprotokoll nach wie vor strittig seien.

Dann kamen Pandemie und Krieg.

McAllister erinnerte an die nationalstaatlichen Reflexe, die nach dem Ausbruch von Covid 19 zu beobachten waren: Grenzschließungen und Exportverbote. Beides sei in einem zusammenwachsenden Europa nicht durchzuhalten gewesen, das zeigte sich bereits mit Blick auf die Pendler.

Im Ergebnis sei die „Health Union“ ein großes Thema. Staaten, die sich vor Corona vehement gegen eine Einmischung Europas in die nationale Gesundheitsvorsorge gewehrt hätten, würden jetzt am stärksten nach europäischen Initiativen verlangen. Und finanziell habe die EU ein 750 Milliarden schweres Rettungspaket auf den Weg gebracht, das angesichts des Verbots einer Kreditaufnahme durch die EU „sehr großzügig ausgelegt“ worden sei, so McAllister.

Der 24. Februar 2022 markierte dann einen „Angriff auf die europäischer Sicherheits- und Verteidigungsarchitektur“, wie es sie seit 1945 nicht mehr gegeben habe. Die Frage stelle sich daher, wie eine neue Sicherheitsarchitektur aussehen werde. Russland habe alle Vereinbarungen und Konventionen infrage gestellt, von Helsinki (OSZE) bis zum Europarat. Ein Ergebnis müsse außerdem eine „Energieunion“ sein, um sich weniger abhängig von russischen Energielieferungen zu machen. Dies erfordere aber europäische Solidarität. 

Fest stehe: Das alte Modell der Sicherheits- und Verteidigungsunion funktioniere nicht mehr. Und es gebe ermutigende Anzeichen, dass dies auch mittlerweile allgemein verstanden werde. So sei der Begriff der „Zeitenwende“ in den Sprachgebrauch anderer Länder eingegangen. Schweden, Finnland und Dänemark seinen nun vollwertige Mitglieder der NATO. Und Deutschland führe erstmals eine außenpolitische Debatte. Das Zwei Prozent-Ziel der NATO sei in Deutschland allgemeiner Konsens.

All jenen, die die Zeichen der Zeit dennoch nicht sehen könnten oder nicht sehen wollten, riet McAllister: „Lest Putins Reden!“. Rückblickend sei sein Denken bereits 2008 in Georgien und spätestens 2014 mit der Annexion der Krim deutlich sichtbar gewesen. Putin teile die Welt erneut in Interessenssphären auf. Das sei das Denken des 19. und des 20. Jahrhunderts.

Der Kernbegriff der 20er Jahre des 21. Jahrhunderts werde daher die „Strategische Souveränität“ sein. Für Europa werde es darauf ankommen, Entscheidungen selbst zu treffen und Abhängigkeiten abzubauen. Angesichts einer Welt, in der nur noch 20 % der Staaten Demokratien sein und die USA ihr Augenmerk in Richtung Pazifik verlagerten, sei mehr Solidarität in Europa notwendig. Mit Blick auf Ungarn sprach McAllister dabei von einem „großen Problem“. Maßgabe müsse aber sein, dass nicht das Recht des Stärkeren gelte sondern die Stärke des Rechts. Dies sei in den USA und in Kanada der Fall; mit einbeziehen müsse man aber auch Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland.

Als eigentliche Herausforderung bezeichnete David McAllister China. Die dortige Führung beobachte genau, wie sich der Westen verhalte und werde ihre Schlüsse daraus viel intelligenter ziehen als Russland. Mit Blick auf das Reich der Mitte riet er zur Strategie der 3 C: Cooperate, compete, confront. 

David McAllister stand den Gästen im Anschluss Rede und Antwort. Zur Energiesicherheit in Deutschland und Europa sagte er: „Wir haben 27 verschiedene Energiepolitiken in Europa und 16 verschiedene in Deutschland.“ Für ihn sei die Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke das Minimum, um der Energieknappheit zu begegnen. In Europa gebe es für das deutsche Vorgehen keine Nachahmer, vielmehr herrsche Schadenfreude über die Bedrängnis, in die Deutschland sich begeben habe. Wenn nun von deutscher Seite „europäische Solidarität“ eingefordert werde, wecke das bei Staaten wie Irland, Portugal und Griechenland gemischte Erinnerungen an das Jahr 2008, als angesichts der Finanzkrise eine solche Solidarität von Deutschland eingefordert wurde: „Man sieht sich immer zweimal im Leben.“

Mit Blick auf die deutsche Energiewende, sagte McAllister: „Viele in Europa halten uns für durchgeknallt.“ Selbstkritisch räumte er aber ein, dass auch die CDU Verantwortung für den Ausstieg aus Kohle und Atom trage.