99 Tage Brexit - zwischen Problemen und Chancen
Online-Talk
Rainer Giersch eröffnete seinen Impuls mit handfesten Zahlen zu den Auswirkungen des Brexits auf den britischen EU-Außenhandel. Besonders hob er hervor, dass es bei den Exporten in die Europäische Union im Januar zu einem starken Rückgang um 40,7 Prozent gekommen sei und die Importe sich um 29 Prozent verringert hätten. Die Exporte nach Deutschland seien sogar um 59 Prozent eingebrochen. Laut dem Office for National Statistics sei dies – gemessen an Preisen und Umfang – „der größte Rückgang in einem Monat seit Beginn der Aufzeichnungen im Januar 1997.“ Dabei müsse man allerdings auch die Einschränkungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie berücksichtigen.
Einbrüche habe es auch im Aktienhandel gegeben. Während das tägliche Handelsvolumen an der Londoner Börse, normalerweise das Zentrum des Aktienhandels in Europa, von Dezember bis Februar auf 8,6 Milliarden Euro gesunken sei, habe es sich in diesem Zeitraum an der Euronext Amsterdam auf 9,2 Milliarden Euro vervierfacht. „Die Verlagerung auf den Kontinent erfolgte, weil Banken aus der EU in London keine in Euro notierten Aktien mehr handeln dürfen, denn Brüssel erkennt die britische Finanzaufsicht nicht mehr an“, erklärte Giersch.
Diese Probleme resultierten aus den nicht im Handels- und Kooperationsabkommen inbegriffenen Bereichen Finanzdienstleistungen und Datenschutz sowie der Bewertung der gesundheitspolizeilichen und pflanzenschutzrechtlichen Vorschriften des Vereinigten Königreichs im Hinblick auf die Aufnahme des Landes als Drittland, das Lebensmittelerzeugnisse in die EU ausführen darf. „Was die Lebensmittelerzeugnisse angeht, gibt es einseitige Beschlüsse der EU, die nicht verhandelbar sind und deswegen muss es gewisse Gesundheitszertifikate geben“, so der Großbritannien-Kenner. Daraus resultierten Zollmeldebestimmungen und Importkontrollen.
Anschließend zeigte Rainer Giersch einige Bereiche auf, in denen sich für Unternehmen aus der EU nach dem Brexit Möglichkeiten eröffnen könnten und riet: „Der Blick auf die Risiken ist gut, aber er sollte nicht den Blick auf die Chancen versperren.“
So habe die Britische Regierung im letzten Jahr deutlich gemacht, dass sie die Kapazität der Offshore-Windkraft bis 2030 auf 40 Gigawatt erweitern wolle. Elf Gigawatt seien bisher installiert, was für engagierte Unternehmen den Neubau von etwa 2.300 Windkraftanlagen bedeuten würde. „Mit den Tarifen, die derzeit in Großbritannien gezahlt werden, wäre das eine Ertragsgrößenordnung von fast 5 Milliarden Euro pro Jahr.“ Zudem sollen etwa 17 Gigawatt an Elektrolysekapazität für Wasserstoff neu installiert und bis 2032 die Rohre des Gasnetzes auf wasserstoffadäquate Systeme umgestellt werden. „Im Bauwesen und der Infrastruktur gibt es einige sensationelle Projekte, wie zum Beispiel das Schnellzugsystem HS2, das London und Birmingham verbinden soll“, erläutere Giersch weiter. Auch schaffe die angestrebte Teilprivatisierung der Krankenhäuser jede Menge Möglichkeiten.
Abschließend kam der Chairman des BCCG in Norddeutschland noch einmal auf die Ergebnisse der Brexit-Abstimmung vom 23. Juni 2016 zurück. Aufgrund der niedrigen Wahlbeteiligung hätten letztlich nur etwa 37 Prozent der Wahlberechtigten für den Brexit gestimmt. Daher müsse sich die Politik in Zukunft im Umgang mit Großbritannien von Dogmen und Doktrinen befreien, „denn die Briten sind nach wie vor unsere Freunde und wir dürfen sie nicht außen vor lassen."
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