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Bericht
03.06.2024
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Ole von Beust, Erste Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg über einen Vertrauensverlust in die Politik

Bei einer Highlight-Veranstaltung konstatierte Ole von Beust Deutschland riesige inhaltliche Probleme. Mit Phrasen entfremde man die Menschen von der Demokratie
©Wirtschaftsrat

2024 stehen viele wegweisende Entscheidungen für die Demokratien dieser Welt an. Im September wird in Sachsen, Thüringen und in Brandenburg gewählt, am 5. November der Präsident oder die Präsidentin der USA. Im Vorfeld der Europawahlen und der Hamburger Bezirksversammlungswahlen sprach der ehemalige Erste Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg Ole von Beust im Hörsaal „Goldenes Ei“ der Kühne Logistics University mit den Mitgliedern des Hamburger Wirtschaftsrates über die Ursachen der aktuellen politischen Lage. 

Vor den Wahlen hatte Ole von Beust eine „ambivalente Stimmung“ in der Bevölkerung ausgemacht: „Ich merke, dass der Vertrauensverlust, die Zweifel, die Fragen bis tief ins bürgerliche Lager hineingehen.“ Die Stimmung sei von einer tiefen Vertrauenskrise, nicht Zweifeln an der Demokratie als solcher, aber an bestimmten Auswüchsen und der Art und Weise, wie Demokratie zu Entscheidungen führe, geprägt. „Wir haben inzwischen eine Ablehnung dieser Bundesregierung, die demoskopisch betrachtet bei 70–75 Prozent liegt, nur noch 25 Prozent stimmen dieser Regierung zu“, so von Beust. Dazu komme der noch geringere Beliebtheitsgrad des Bundeskanzlers.

Als Gründe für diese Entwicklung führte er Fehler der Bundesregierung in Haltung und Inhalten an. „Nach meiner politischen Erfahrung, wenn Sie nicht gerade ein großes polarisierendes Ja-/Nein-Thema haben, sind bei der Bewertung der Politik die Haltung, die Ausstrahlung, das Gefühl, ich bin in guten Händen, wichtiger als der Inhalt“, erklärte er und ergänzte: „Was den Inhalt angeht, hat diese Bundesregierung so viele handwerkliche Fehler gemacht, dass man fragen kann, wo da eigentlich noch der inhaltliche Anker ist, den sie auswerfen kann: von dem Chaos um das Heizungsgesetz über die kurzfristige Streichung der Prämie für E-Autos, über das ewige Hin und Her der Kindergrundsicherung bis hin zur Abschaltung von Kernkraftwerken in Zeiten, in denen wir dringend Energie brauchen.“ Ein handwerklicher Fehler nach dem anderen habe sich mit Dauerzank und Dauerärger verbunden. Die Menschen wollten zwar Debatte und Diskussion, wünschten sich aber wiederum, dass diejenigen, die regieren, an einem Strang ziehen.

Dass die Union nicht stärker davon profitiere, führte er darauf zurück, dass diese selbst zu unkonkret in ihren Forderungen sei. So spürten die Menschen zum Beispiel, dass die Sozialsysteme, so wie sie seien, nicht weiter funktionierten, die Union sich aber in der Konkretisierung der Alternative sehr schwertue. Dazu komme, dass der CDU/CSU zwar die weitaus höhere wirtschaftliche Kompetenz zugewiesen werde, man mit dieser Zuweisung allein aber keine Wahlen gewinne. „Die große Mehrheit erwartet, dass wirtschaftliche Kompetenz verbunden ist mit Haltung und Herz für die kleinen Leute und das fehlt so ein bisschen“, sagte von Beust.

In der Kombination sorge das dafür, dass die Parteien an den Rändern stärker werden. Die Menschen merkten, dass etwas nicht in Ordnung sei. Deutschland stehe vor riesigen inhaltlichen Problemen, von denen man auch nicht sagen könne, dass allein die jetzige Bundesregierung schuld daran sei. Konkret nannte von Beust die Abwanderung der Industrie, die fehlende Digitalisierung, den Fachkräftemangel, die innere und äußere Sicherheit sowie die Situation im Wohnungsbau. „Aus meiner Sicht reagiert die Politik darauf völlig an der Realität vorbei, weil die Probleme einfach geleugnet werden. Es wird einfach nicht zugegeben, dass da Probleme sind beziehungsweise mit Phrasen auf die Probleme geantwortet“, so von Beust. Mit solchen Phrasen entfremde man die Menschen von der Demokratie.

Darüber hinaus identifizierte er zwei weitere Aspekte, die für den Vertrauensverlust und Gesamtzusammenhalt eine große Rolle spielten. So gebe es zum einen keine politischen Identifikationsfiguren mehr, die früher die Herzen der Leute an sich gebunden hätten. Das liege heute unter anderem auch an der Transparenz der sozialen Netzwerke, in denen jeder, der ein politisches Führungsamt anstrebe, gnadenlos durchleuchtet werde. „Die Gefahr ist, dass Sie nachher einen Politikertyp kriegen, der versucht, bloß nicht anzuecken, bloß nichts Falsches zu sagen, bloß nicht mal etwas zu sagen, das provoziert oder das wehtun könnte.“ Das führe dazu, dass Menschen mit Ecken und Kanten, mit Fehlern, mit Vergangenheit im Grunde ausgegrenzt werden, ein politisches Mandat wahrzunehmen. Zum anderen habe sich die Art der politischen Kommunikation verändert. „Wenn Sie früher ein tolles Interview oder einen tollen Artikel im Hamburger Abendblatt hatten, sprach die Stadt darüber. Wenn Sie das heute haben, sprechen Sie vielleicht noch die Damen und Herren über 70 darauf an“, sagte von Beust. Die Meinungsbildung der Mehrheit der Bevölkerung laufe nun über Blogs, soziale Netzwerke oder persönliche Gespräche, was dazu beitrage, dass Meinungsbildung als solche keinen Qualitätsanspruch mehr habe. Dies sorge für Orientierungslosigkeit bei der Bildung einer qualifizierten Meinung und führe nebenbei auch zur Radikalisierung der Menschen: „Heute haben Sie durch das Internet eine Vernetzung der Stammtische. Die Leute merken, dass sie mit ihrer Radikalität nicht allein sind, und daraus entsteht eine Woge von Bösartigkeit, von Hass, die es früher vielleicht im kleinen Rahmen gegeben hat, aber nicht vernetzt in der Massenwirkung“, so der ehemalige Bürgermeister. All dies zusammen habe eine geänderte Stimmungslage, einen Vertrauensverlust, einen Identifikationsverlust mit einer Politik zur Folge, die darauf sehr stark mit Phrasen ohne konkrete Vorschläge antworte.

Zur Lösung forderte von Beust abschließend von der Politik zunächst eine ehrliche Problemanalyse, die aufzeige, wie schwierig die Lage sei. Außerdem müssten Prioritäten gesetzt werden, da nicht alle Probleme innerhalb von zwei oder drei Jahren zu lösen seien. Die Frage sei aber auch, wie kommunikativ mit solchen Dingen umgegangen werde: „Die Politik muss sich nicht zu allem, was passiert, innerhalb von fünf Minuten äußern. Sie sollte sich einfach mal ein bisschen zurücknehmen, nicht im Fleiß, nicht in der Ambition, aber in der Kommunikation.“