Sicher und vielseitig: Esten greifen mit ihrer elektronischen Identität auf über 3.000 Services zu
Bürokratieabbau
ist eine der wichtigsten politischen Forderungen des Wirtschaftsrates. Ein
zentraler Ansatz ist dabei, dass die Digitalisierung in allen Wirtschafts- und
Lebensbereichen intensiviert wird. Als eines der besten Beispiele weltweit, wie
der Alltag mit Digitalisierung erleichtert wird, gilt das Konzept von Estland.
Seit über 30 Jahren ist dort unter dem Stichwort „E-Government“ nahezu die
gesamte Verwaltung digital aufgestellt worden. Es gibt nur noch zwei Gründe,
die es notwendig machen, persönlich bei einer Behörde zu erscheinen: bei der
Hochzeit und bei der Scheidung. Wie es der baltische Staat geschafft hat, sich
hochmodern, effizient und bürgerfreundlich aufzustellen, darüber informierten
sich die Mitglieder des Wirtschaftsrates in einer Online-Konferenz.
Michael
Pietz und Dr. Bernd-Uwe Stucken, Vorsitzender und stellvertretender
Vorsitzender der Landesfachkommission Hamburg International, gaben Referentin
Carmen Raal vom e-Estonia
Briefing Centre gleich zum Auftakt vor, wie sie die Situation einschätzen. Dr.
Stucken: „Wir nutzen in vielen Bereichen noch das Faxgerät, in Estland kennt
das niemand mehr. Deutschland hinkt mindestens 20 Jahre hinterher.“ Raal nutzte
diese klare Botschaft, um innerhalb einer guten Stunde das Erfolgsmodell der
Esten mit allen Chancen und Risiken zu skizzieren. Für sie steht fest: „Eine
konsequente Digitalisierung ist für jedes demokratische Land ein Muss.“
99
Prozent kann digital abgewickelt werden
In
Estland seien 1991 die ersten Gedanken aufgekommen in einer Zeit, „als wir viel
Korruption hatten.“ Als kleines Land sei klar gewesen, dass „wir eigene
Lösungen entwickeln müsse, weil die Konzepte anderer für uns zu teuer gewesen
wären“. Heute können 99 Prozent aller Kontakte der Bürger und Unternehmen mit
dem Staat rund um die Uhr digital abgewickelt werden. Raal: „Unser Vorteil war
sicherlich, dass wir nicht auf bestehende Gesetze und Systeme Rücksicht nehmen
mussten und es bereits seit den 1960er Jahren ein Institut in unserem Land gab,
das in diesem Bereich über eine hohe Kompetenz verfügt.“
Vom
Kindesalter an in digitale Bildung investieren
Der
Politik sei klar gewesen, dass eine Lösung für das Land nur im Zusammenspiel
mit dem privaten Sektor gefunden werden kann und „sowohl in den Verwaltungen
als auch in allen anderen Lebensbereichen die Digitalisierung umgesetzt werden
muss.“ Durch diese Herangehensweise seien viele Private-Public-Partnerships
(PPP) entstanden und viele Open-Source-Lösungen entwickelt worden. Parallel zu
den Überlegungen, was umgesetzt werden könne, sei auch entschieden worden, dass
„wir vom Kindesalter an in der Bildung bis hin zu den Erwachsenen Angebote
schaffen müssen, die informieren und den Umgang mit PC und Technik schulen.“
Die Erfolge seien heute in vielen Bereichen spürbar. So könne in drei Minuten
eine Steuererklärung abgegeben werden. Das Land sei 2005 das erste gewesen, das
ein digitales e-Voting bei Wahlen ermöglicht und für Dienstleistungen sichere Blockchain-Lösungen
realisiert habe. Raal: „Alles, was wir auf den Weg gebracht haben, ist für die
Bürger optional. Wer will, kann auch weiterhin in eine Behörde gehen.“ Man sei
sehr stolz, dass die meisten Menschen nicht mehr Schlange stehen.
Drei
Erfolgsfaktoren: Einfachheit, Sicherheit und Verfügbarkeit
Als
Erfolgsfaktoren nannte Raal die Einfachheit, Sicherheit und Verfügbarkeit. So
sei bereits 2002 die elektronische Identität (eID)eingeführt wurden. „Auf dem
Ausweis ist ein Chip mit Daten eingebaut, der mit PIN die Möglichkeit zur
Identifikation und mit zweiter PIN zur digitalen Signatur bietet. „Alle
Lösungen sind zudem ohne PC nutzbar, d.h. mit der Karte oder mobiler eID.“ Die heute
über 3.000 Services – sie reichen von staatlichen Angeboten über Führerschein
bis hin zur Identität für Bankgeschäfte -
sind somit für Bürger des Landes von jedem Ort der Welt nutzbar. Das
unterstreiche beispielsweise der Blick auf die Zahl der aus dem Ausland
gegründeten Firmen. „23.000 Unternehmen sind auswärts gegründet worden und
zahlen heute 35 Millionen Euro an Steuern.“ Insgesamt wickeln die 1,3 Millionen
Esten pro Jahr 3,5 Billionen Transaktionen über das System ab, so Raal. So
werde auch im Gesundheitssektor mit den Daten agiert. Raal: „Wir schauen
konsequent, welche Chancen mit Big Data verbunden sind.“
Dezentrale
Datenablage und Transparenz bei der Nutzung
Die
Digitalexpertin ging auch auf das Thema Datenschutz und -diebstahl ein. „Unser
Netz ist so aufgebaut, dass die Daten an vielen unterschiedlichen Orten
abgelegt sind. Zudem hat jeder Bürger die Möglichkeit, jederzeit einzusehen,
wer für was auf welche seiner Daten zugegriffen hat.“ Datenmissbrauch und
Diebstahl hätten sich bisher nicht als Problem dargestellt. Auch der Staat
profitiere an vielen Stellen. „Wenn ein Kind geboren wird, bekommt es sofort
eine eID. Die Eltern müssen nichts mehr machen, alles ist erfasst. Für den
weiteren Lebensweg bedeutet das: Die Kommunen wissen genau, wann wieviel Kinder
in die Schule kommen. Das gibt Planungssicherheit.“
Der
Erfolg der Esten hat zwischenzeitlich zu Kooperationen geführt. So habe man ein
neues Institut gegründet, das das Ziel hat, mit andern Ländern gemeinsam
Ressourcen zu heben. Mit Finnland und Island arbeite man intensiv zusammen,
Malaysia und die Ukraine hätten Teile des Systems übernommen.
Raal:
Niemand will zurück zu Papier
Mit Blick auf die weitere Zukunft macht Raal, die sich im Anschluss an ihre Präsentation vielen Fragen stellte, deutlich, dass „jeder erkennen muss, dass die Digitalisierung unumgänglich ist“. Transparenz mit dem Thema umzugehen schaffe das erforderliche Vertrauen. Raal: „Es kommt darauf an, durch einen intensiven Dialog die Lücke zwischen Entscheidern und Nutzern in der Bevölkerung zu schließen.“ Sie sei überzeugt, dass in Estland niemand einen Schritt zurück in Richtung Papier gehen möchte. Die Herausforderung bestünde für andere Länder darin, die praktikablen digitalen Lösungen, wie sie Estland vorlebe, „an die Kultur und die Geschichte des jeweiligen Landes anzupassen.“
Weitere Informationen über das digitale Estland finden Sie unter www.e-estonia.com.