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Bericht
27.10.2022
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Sicher und vielseitig: Esten greifen mit ihrer elektronischen Identität auf über 3.000 Services zu

Vortrag über E-Government in Estland – Konzept mit Private-Public-Partnerships
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Bürokratieabbau ist eine der wichtigsten politischen Forderungen des Wirtschaftsrates. Ein zentraler Ansatz ist dabei, dass die Digitalisierung in allen Wirtschafts- und Lebensbereichen intensiviert wird. Als eines der besten Beispiele weltweit, wie der Alltag mit Digitalisierung erleichtert wird, gilt das Konzept von Estland. Seit über 30 Jahren ist dort unter dem Stichwort „E-Government“ nahezu die gesamte Verwaltung digital aufgestellt worden. Es gibt nur noch zwei Gründe, die es notwendig machen, persönlich bei einer Behörde zu erscheinen: bei der Hochzeit und bei der Scheidung. Wie es der baltische Staat geschafft hat, sich hochmodern, effizient und bürgerfreundlich aufzustellen, darüber informierten sich die Mitglieder des Wirtschaftsrates in einer Online-Konferenz.

Michael Pietz und Dr. Bernd-Uwe Stucken, Vorsitzender und stellvertretender Vorsitzender der Landesfachkommission Hamburg International, gaben Referentin Carmen Raal vom e-Estonia Briefing Centre gleich zum Auftakt vor, wie sie die Situation einschätzen. Dr. Stucken: „Wir nutzen in vielen Bereichen noch das Faxgerät, in Estland kennt das niemand mehr. Deutschland hinkt mindestens 20 Jahre hinterher.“ Raal nutzte diese klare Botschaft, um innerhalb einer guten Stunde das Erfolgsmodell der Esten mit allen Chancen und Risiken zu skizzieren. Für sie steht fest: „Eine konsequente Digitalisierung ist für jedes demokratische Land ein Muss.“

99 Prozent kann digital abgewickelt werden

In Estland seien 1991 die ersten Gedanken aufgekommen in einer Zeit, „als wir viel Korruption hatten.“ Als kleines Land sei klar gewesen, dass „wir eigene Lösungen entwickeln müsse, weil die Konzepte anderer für uns zu teuer gewesen wären“. Heute können 99 Prozent aller Kontakte der Bürger und Unternehmen mit dem Staat rund um die Uhr digital abgewickelt werden. Raal: „Unser Vorteil war sicherlich, dass wir nicht auf bestehende Gesetze und Systeme Rücksicht nehmen mussten und es bereits seit den 1960er Jahren ein Institut in unserem Land gab, das in diesem Bereich über eine hohe Kompetenz verfügt.“

Vom Kindesalter an in digitale Bildung investieren

Der Politik sei klar gewesen, dass eine Lösung für das Land nur im Zusammenspiel mit dem privaten Sektor gefunden werden kann und „sowohl in den Verwaltungen als auch in allen anderen Lebensbereichen die Digitalisierung umgesetzt werden muss.“ Durch diese Herangehensweise seien viele Private-Public-Partnerships (PPP) entstanden und viele Open-Source-Lösungen entwickelt worden. Parallel zu den Überlegungen, was umgesetzt werden könne, sei auch entschieden worden, dass „wir vom Kindesalter an in der Bildung bis hin zu den Erwachsenen Angebote schaffen müssen, die informieren und den Umgang mit PC und Technik schulen.“ Die Erfolge seien heute in vielen Bereichen spürbar. So könne in drei Minuten eine Steuererklärung abgegeben werden. Das Land sei 2005 das erste gewesen, das ein digitales e-Voting bei Wahlen ermöglicht und für Dienstleistungen sichere Blockchain-Lösungen realisiert habe. Raal: „Alles, was wir auf den Weg gebracht haben, ist für die Bürger optional. Wer will, kann auch weiterhin in eine Behörde gehen.“ Man sei sehr stolz, dass die meisten Menschen nicht mehr Schlange stehen.

Drei Erfolgsfaktoren: Einfachheit, Sicherheit und Verfügbarkeit

Als Erfolgsfaktoren nannte Raal die Einfachheit, Sicherheit und Verfügbarkeit. So sei bereits 2002 die elektronische Identität (eID)eingeführt wurden. „Auf dem Ausweis ist ein Chip mit Daten eingebaut, der mit PIN die Möglichkeit zur Identifikation und mit zweiter PIN zur digitalen Signatur bietet. „Alle Lösungen sind zudem ohne PC nutzbar, d.h. mit der Karte oder mobiler eID.“ Die heute über 3.000 Services – sie reichen von staatlichen Angeboten über Führerschein bis hin zur Identität für Bankgeschäfte -  sind somit für Bürger des Landes von jedem Ort der Welt nutzbar. Das unterstreiche beispielsweise der Blick auf die Zahl der aus dem Ausland gegründeten Firmen. „23.000 Unternehmen sind auswärts gegründet worden und zahlen heute 35 Millionen Euro an Steuern.“ Insgesamt wickeln die 1,3 Millionen Esten pro Jahr 3,5 Billionen Transaktionen über das System ab, so Raal. So werde auch im Gesundheitssektor mit den Daten agiert. Raal: „Wir schauen konsequent, welche Chancen mit Big Data verbunden sind.“

Dezentrale Datenablage und Transparenz bei der Nutzung

Die Digitalexpertin ging auch auf das Thema Datenschutz und -diebstahl ein. „Unser Netz ist so aufgebaut, dass die Daten an vielen unterschiedlichen Orten abgelegt sind. Zudem hat jeder Bürger die Möglichkeit, jederzeit einzusehen, wer für was auf welche seiner Daten zugegriffen hat.“ Datenmissbrauch und Diebstahl hätten sich bisher nicht als Problem dargestellt. Auch der Staat profitiere an vielen Stellen. „Wenn ein Kind geboren wird, bekommt es sofort eine eID. Die Eltern müssen nichts mehr machen, alles ist erfasst. Für den weiteren Lebensweg bedeutet das: Die Kommunen wissen genau, wann wieviel Kinder in die Schule kommen. Das gibt Planungssicherheit.“

Der Erfolg der Esten hat zwischenzeitlich zu Kooperationen geführt. So habe man ein neues Institut gegründet, das das Ziel hat, mit andern Ländern gemeinsam Ressourcen zu heben. Mit Finnland und Island arbeite man intensiv zusammen, Malaysia und die Ukraine hätten Teile des Systems übernommen.

Raal: Niemand will zurück zu Papier

Mit Blick auf die weitere Zukunft macht Raal, die sich im Anschluss an ihre Präsentation vielen Fragen stellte, deutlich, dass „jeder erkennen muss, dass die Digitalisierung unumgänglich ist“. Transparenz mit dem Thema umzugehen schaffe das erforderliche Vertrauen. Raal: „Es kommt darauf an, durch einen intensiven Dialog die Lücke zwischen Entscheidern und Nutzern in der Bevölkerung zu schließen.“ Sie sei überzeugt, dass in Estland niemand einen Schritt zurück in Richtung Papier gehen möchte. Die Herausforderung bestünde für andere Länder darin, die praktikablen digitalen Lösungen, wie sie Estland vorlebe, „an die Kultur und die Geschichte des jeweiligen Landes anzupassen.“


Weitere Informationen über das digitale Estland finden Sie unter www.e-estonia.com.