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Bericht
15.04.2020
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Strukturwandel vorantreiben: Corona-Krise als Chance?

Online-Talk

HWWI-Direktor Prof. Dr. Henning Vöpel warnt vor zu starkem Staat
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Henning Vöpel ging zunächst auf die spezielle „Anatomie der Krise“ ein und betonte, dass es sich hier um keine echte Konjunkturkrise handle, wie sie etwa in Folge einer Finanzmarkt- oder Staatsschuldenkrise auftrete. „Wir haben es zu tun mit einem Angebotsschock“, so der Experte. Keine unzureichende Nachfrage löse den Abschwung aus, sondern ein bewusstes Herunterfahren von großen Teilen der Ökonomie. Natürlich bleibe die Wirtschaftskrise nicht auf den Angebotsschock beschränkt – ein Nachfrageschock schließe sich an. Dadurch, dass an vielen Stellen keine Wertschöpfung mehr erzeugt werde, entfalle die Nachfrage in den meisten Branchen.

 „Wir haben das Phänomen, dass Lieferketten nicht national organisiert sind, sondern grenzüberschreitend. Das heißt, dieser Angebotsschock wirkt im Grunde schon seit Beginn des Jahres, ausgehend von China“, erklärte Vöpel. Es sei zu erwarten, dass Wertschöpfungs- und Lieferketten global vermutlich „über viele, viele Monate“ gestört blieben. Dies treffe natürlich auch die Absatzmärkte. Die ausbleibende Nachfrage erfasse allmählich die gesamte Ökonomie. 

 

Im Weiteren stellte der HWWI-Direktor die möglichen konjunkturellen Folgen der Corona-Krise dar. Drei Szenarien bzw. Entwicklungskurven werden in der Fachwelt diskutiert:

  • V-Kurve: Ein steiler Absturz, dem nach kurzer Zeit ein ebenso schneller Aufschwung folgt.
  • U-Kurve: Ein drastischer Absturz, gefolgt von einer Stabilisierungsphase auf niedrigem Level, die nach einer gewissen Zeit in einen raschen Aufschwung übergeht.
  • L-Kurve: Ein steiler Absturz, der eine lange Stagnationsphase auf niedrigem Niveau nach sich zieht.

 

Das Konjunkturbild „V“ könne man ad acta legen. Es sei nicht mehr realistisch. „Mindestens bekommen wir ein U“, urteilte der Ökonom. Ein L-Szenario würde strukturelle Folgen haben, die weit über den konjunkturellen Effekt hinausreichten. Dies gelte es unbedingt zu vermeiden. Der Experte ging in diesem Kontext auf verschiedene Konjunkturprognosen ein. Ein Rückgang der Wirtschaftsleistung um etwa 5 Prozentpunkte bewege sich noch im optimistischen Rahmen. Je nach Länge des Shutdowns könne es aber auch zu einem Wachstumsverlust von 10 oder 20 Prozentpunkten kommen.

 

Henning Vöpel wandte sich als nächstes den Kriseninstrumenten zu. Das Szenario eines bewussten Herunterfahrens wirtschaftlicher und sozialer Aktivitäten komme einem Einfrieren oder einem künstlichen Koma gleich. „Wir versetzen die Ökonomie in einen Zustand, in dem möglichst wenig passiert. In dem wir die Strukturen erhalten können und – wenn der ganze Spuk vorbei ist – […] den Patienten wieder aus dem künstlichen Koma erwachen lassen. Und wir dann so weitermachen können wie bisher“, sagte der Experte.

Eine ähnliche Vorstellung verfolge bislang die Bundesregierung, was sich in der Art und Weise der Hilfsprogramme zeige. Bürgerschaften und Kreditlinien sollten denjenigen schnelle Liquidität geben, die derzeit kein Einkommen erzeugen können und trotzdem laufende Kosten haben. „Das ist die richtige Strategie für den Fall, dass diese Krise ein paar Wochen, maximal vielleicht zwei, drei Monate dauert. Dann ist das gewählte Instrumentarium, auch die Größenordnung der Hilfen, absolut angemessen und ausreichend“, erläuterte Vöpel.

 

Gleichzeitig gab der Ökonom zu bedenken, dass sich Deutschland schon jetzt erkennbar an einem Punkt befinden, wo über andere Instrumente nachgedacht werden müsse. Welche Maßnahmen könne man ergreifen, wenn das, was man bislang angewendet habe, nicht mehr wirke? Als konkrete Gefahr machte Vöpel die Kreditlast vieler Unternehmen aus. Er erwarte nach der Krise ein sogenanntes Deleveraging (vereinfacht: die Reduktion von Schulden). „Das wird ganz Viele in große Probleme bringen. Wir reden nicht nur über Soloselbstständige, sondern tatsächlich auch über weite Teile des Mittelstands, dessen Liquiditätsdecke dünn ist und deren Kreditwürdigkeit nicht über vier, fünf Monate reicht. Wir werden irgendwann nicht mehr allein mit Bürgschaften und Kreditlinien operieren können“, erläuterte der HWWI-Direktor. Einen großflächigen Einstieg des Staates in Unternehmen hält er aus ordnungspolitischen Gründen jedoch für schwierig.

 

Im letzten Part seines Impulses wandte sich Vöpel der Frage zu, wie das „new normal“ aussehen könne. Er macht deutlich: „Es ist erkennbar, dass wir […] in den Zustand vor der Krise nicht zurück können. Und wahrscheinlich auch nicht zurückkehren sollten.“. Neben den existenziellen Nöten liege in der Krise auch die Chance, den ohnehin in vielen Bereichen schon laufenden Strukturwandel zu beschleunigen. Nach der Krise werde es zu einer gewaltigen Reallokation der Ressourcen und enormen strukturellen Verschiebungen kommen. Die Strategie des Einfrierens bestehender Strukturen sei nun erkennbar am Ende. „Wir müssen hinterher ganz bewusst eine Reallokation von Arbeit, von Kapital, von Strukturen zulassen“, unterstrich der Ökonom. Die Zeit für ein neues Unternehmertum sei  gekommen.

 

Henning Vöpel schloss seinen Impuls mit zwei klaren Statements: Er warnte erstens vor dem zunehmenden Ruf nach einem über die akute Krise hinaus starken Staat. „Wir müssen aufpassen, dass wir den Eingriff in Freiheits- und Eigentumsrechte nicht überdrehen.“ Zweitens verteidigte der Wirtschaftsexperte das Globalisierungsprinzip und die internationale Arbeitsteilung. Die Idee, strategisch bedeutsame Bereiche zugunsten einer größeren nationalen Autarkie zu renationalisieren, beurteilte er kritisch. „Zu glauben, man könne […] globale Wertschöpfungs- und Lieferketten resilienter machen, indem wir Arbeitsteilung zurückdrehen, halte ich für sehr gefährlich“, schloss Vöpel seinen Impuls.