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Bericht
04.11.2020
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Aus den Ländern (Schleswig-Holstein) - Zukunft der Innenstädte

Wirtschaftsrat diskutiert über die Zukunft der Innenstädte

Mit mehr Vielfalt auf Entdeckungsreise locken
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Handel keine Lokomotive mehr

Manuel Jahn, Mitglied des Management Boards der Habona Invest GmbH aus Hamburg, machte in einem Einstiegsvortrag mit zehn Fakten (siehe dazu gesonderte Infobox) deutlich, wie groß die Herausforderung für die Innenstädte in den kommenden Jahren sein wird. „Der Einzelhandel als Lokomotive funktioniert nicht mehr. Es braucht ein neues Leitbild, wie die Innenstadt der Zukunft aussehen kann, was sie künftig leisten und welches Publikum angesprochen werden soll“, so Jahn. Er stellte fest, dass in den meisten Städten die Krise noch gar nicht richtig verstanden wird. Währenddessen verläuft der Rückzug des Handels  „meist chaotisch, weil man in dieser Hinsicht absolut unerfahren ist“. Aus seiner Sicht sollte sich jede Kommune Gedanken über einen „Rückbaumanager“ machen.

 

Mehr Aufenthaltsqualität schaffen

Fest steht aus seiner Sicht, dass die Zukunft einer Stadt bzw. auch einer Innenstadt davon abhängt, wie es gelingt, den Menschen neue Konzepte mit einer Mischung aus kurzen Wegen, Kommunikation- und Erlebnismöglichkeiten zu bieten. „Profiteur des Wandels wird das Neue Lokale sein. Stadtteilzentren zeigen gerade in Corona-Zeiten, wie Vielfalt und kurze Wege von den Menschen geschätzt werden“. Für Neumünster sieht Jahn in dieser grundsätzlichen Entwicklung durchaus auch eine Chance für die heutige Innenstadt. „Sie ist gut zu Fuß erlebbar, hat bis heute Nahversorgungsfunktion für die angrenzenden Wohngebiete“. Um den Charakter zu erhalten und die Anziehungskraft zu stärken, müssten neue Nutzungen auch mit Blick auf die alternde Gesellschaft erfolgen. Jahn: „Zudem sollte auch darüber nachgedacht werden, Publikumsnutzungen wie Behörden, Bildungseinrichtungen, Hotels, Ärztezentren konsequent  im Zentrum zu bündeln.“ Man müsse Haus für Haus ins Detail gehen, um Spielraum für mehr Flexibilität in den Nutzungen zu finden. Die Stadt müsse wieder Atmen können.

 

Zu wenig Liebe, zu viele Auflagen

Sehr pointiert formulierte Mogens Link Schmidt, geschäftsführender Gesellschafter, Søstrene Grene, Germany North Hilmer Holding GmbH (Hamburg), seine Sicht auf die Dinge. Sein Unternehmen habe in den vergangene knapp fünf Jahren 52 Filialen eröffnet – allerdings nicht in Neumünster. „Wenn ich in die Fußgängerzone von Neumünster gehe, dann ist Game over. Die Innenstadt ist mit unzähligen Banken, Bäckern und Döner-Läden so langweilig, dass ich nach zehn Sekunden wieder auf mein Handy schaue.“ Wenn eine Innenstadt heute Erfolg haben wolle, dann „muss sie den Besucher neugierig machen und zu einer Entdeckungsreise motivieren“. Es gebe zu wenig Spannendes, zu wenig Spezialeinzelhandel. „Es fehlt hier an Liebe“. Zudem kritisierte er, dass es zu viele Auflagen gebe, wer sich wie an welchen Standorten entwickeln darf. Er bot an, sich als Unternehmen aktiv einzubringen, wenn eine Initiative von Unternehmen von Seiten der Stadt gewünscht und koordiniert werde. „Dabei müssen wir auch die jungen Leute stärker einbinden und uns in Europa umschauen. Es gibt Beispiele, wo der der Wandel mit kreativen Ideen gelingt.“

 

Funktionen neu definieren

Fünf nach Zwölf ist es nach Ansicht von Dierk Böckenholdt, Hauptgeschäftsführer Handelsverband Nord, Hamburg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, für den Einzelhandel und die Innenstadt von Neumünster. „Das Outlet-Center mag die Stadt bekannter gemacht haben und Menschen anziehen, aber nimmt auch Entwicklungsperspektiven. Wichtig ist aus meiner Sicht, dass die Funktionen, die die Innenstadt künftig haben soll, neu definiert werden. Man habe kein Erkenntnisproblem, sondern „es geht um die Frage, wie wir wieder Umsätze in die Innenstädte holen. Dazu müssen alle Beteiligten an den Tisch“, so sein Appell. Die Schwierigkeiten bei der Neuaufstellungen würden sich häufig durch die Immobilien und den Vorstellungen der Eigentümer ergeben. Für Neumünster sei es zudem wichtig, dass die Stadt etwas für die Erreichbarkeit macht.

 

Immobilieneigentümer im Fokus

Das Schlusswort hatte dann Neumünsters Oberbürgermeister Dr. Udo Tauras. Er versuchte, an die positiven Entwicklungen der Stadt, die er am Beginn des Abends dargestellt hatte, anzuknüpfen. Der Umstand, dass das Outlet-Center Neumünster aus der Sandwich-Position zwischen Hamburg und Kiel herausgeholt habe und die Sparlasse für das alte Karstadt-Gebäude durch die Sparkasse ein Entwicklungskonzept habe, könnten eine Basis für die nächsten Jahre sein. „Wenn man mich fragt, ob wir alles richtig gemacht haben, dann antworte ich mit einem überzeugten Jein. Unser Image als Einkaufsstadt hat sich stark verbessert“, so Dr. Tauras. Es gelte nun darum, gemeinsam nach vorne zu schauen. „Die Innenstadt wird immer der Ort sein, wo Menschen zusammenkommen und ihre Identität mit der Stadt entwickeln. Wir brauchen künftig eine gute Mischung aus Kultur, Bildung und Einzelhandel.“ Er stimmte zu, dass es für diese Entwicklung auch einer Liebe zur Stadt bedarf. „Unternehmerpersönlichkeiten sind es, die vor allem diese Liebe in die Stadt bringen können. Da haben wir Luft nach oben.“ Man brauche neue Ideen, „die wir gemeinsam mit den Eigentümern der Immobilien entwickeln müssen“. Das sei der Schlüssel und es sei ein dabei „eine riesige Chance, dass man sich in Neumünster untereinander kennt.“ 

 

Infobox: 10 Fakten zur Innenstadtentwicklung

Seit vielen Jahren analysiert die Habona Invest GmbH auf Basis von Marktforschungsdaten die Veränderungen im Kaufverhalten. Mit den Analysen werden die Investitionsentscheidungen des Unternehmens abgesichert. Manuel Jahn, Mitglied des Management Boards der Habona, präsentierte in einem Vortrag zehn Fakten zur Innenstadtentwicklung:

 

1. Warenhauskrise

Die Zahl der klassischen Warenhäuser in Innenstädten geht seit 1990 kontinuierlich zurück. Sie sind heute kein „Anker“ mehr. Der Umsatz ging von14 Mrd. Euro auf 4 Mrd. Euro zurück. Das Warenhaus wird nur in exklusiverer Form und nur an wenigen Standorten überleben.

 

2. Fashionkrise

In der Bekleidungsbranche findet seit einigen Jahren eine „Flurbereinigung“ statt. Die Pro-Kopf-Bekleidungsausgaben sind seit 2008 um 25 Prozent zurückgegangen. Es herrscht ein Überangebot und Preisverfall, der auch die großen Namen wie Gerry Weber, H & M und C & A erfasst hat

 

3. Shoppingcenterkrise

Die Center haben ihren Zenit seit 2016/17 überschritten. Die Entwicklung zeichnete sich vor der Corona-Pandemie ab und hat sich seit der Pandemie radikal beschleunigt.

 

4. Nahversorgungsrallye

Das Wachstum bei Supermärkten mit frischen, besseren und teureren Produkten ist phänomenal. An machen Standorten wächst der Umsatz pro Jahr bis zu 10 Prozent Modernisierte Konzepte sind dabei besonders erfolgreich

 

5. Von der linken in die rechte Tasche

Der Umsatz im Foodbereich ist seit 2005 um 42 Prozent gestiegen, während er im Nonfoodbereich um 15 Prozent gefallen ist.  

 

6. Online wildert bei Nonfood

Das Internet-Geschäft wildert zu 99 Prozent in den Nonfood-Sortimenten und fordert insbesondere die Anbieter in den Fußgängerzonen heraus.

 

7. Zeit-Wege-Toleranz für Shopping nimmt ab

Bei der Länge der Einkaufsfahrten ist ein Rückgang um 18 Prozent, bei der Anzahl  um 25 Prozent zu verzeichnen. Es wird weniger Zeit für Einkaufen investiert, die digitalisierte Welt wird für Einkäufe genutzt, statt in die Innenstädte zu fahren. Eingekauft wird eher um die Ecke. Handel funktioniert in der Nähe der Wohnorte und immer weniger in zentralen Lagen.

 

8. Nonfood spielt Baukosten nicht mehr ein

Nur die Entwicklung im Lebensmittelbereich konnte mit den gestiegenen Baukosten bei Immobilien in den letzten Jahren folgen. Gebäudemieten in der Innenstadt sind von Fashionanbietern immer weniger zu bezahlen.

 

9. Nonfood-Überhänge werden abgebaut

Bis 2030 könnten 33 Prozent der Bekleidungsumsätze verloren gehen, entsprechende Flächen werden verschwinden. Die Leerstandentwicklung in einigen Städten wird sich beschleunigen

 

10. Innenstädte brauchen ein neues Leitbild

Die Innenstädte wurden seit den 1960er Jahren einseitig auf  den Einzelhandel ausgerichtet, alle anderen Nutzungen herausgedrängt. Diese Monofunktion ist für den Kunden nicht mehr attraktiv. Neue Konzepte für die Innenstadtlagen sind erforderlich: z.B. Rückbau der Verkaufsfläche, Überprüfung von  Fußgängerzonenkonzepten, Ausbau von „Mixed Use“, stärkere Integration von Gastronomie, Kultur, Wohnungen und Büros.

 

Von Holger Hartwig, Agentur Hartwig3c (Hamburg)