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Bericht
25.06.2020
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Bedeutung und Analyse des Urteils des BVerfG zum EZB-Anleihenkaufprogramm

Im Gespräch mit Mitgliedern des Wirtschaftsrates informierten Prof. Dr. Sven Simon, Professor für Völker- und Europarecht an der Philipps- Universität Marburg und Mitglied des Europäischen Parlaments, sowie Carsten Brzeski, Chefsvolkswirt der ING-DiBa AG, über die Bedeutung und Tragweite des Urteils des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu dem Anleihenkaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB).
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Selten hat ein Urteil des BVerfG zu solch langanhaltender medialer Aufmerksamkeit geführt, wie dies zum Anleihenkaufprogramm (PSPP-Programm) der EZB. Das Urteil, welches das PSPP-Programm der EZB als teilweise verfassungswidrig erklärte, und mit dem sich das BVerfG erstmals gegen ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) stellte, ist für Prof. Sven Simon die folgerichtige Entscheidung. „Der EuGH hätte in seinem Urteil zum PSPP-Programm im Jahr 2018 prüfen müssen, ob eine ausreichende Abwägung zwischen den Maßnahmen der EZB innerhalb ihres Mandates der Währungspolitik und der Konjunkturpolitik, welche im Kompetenzbereich der Staaten liegt, durchgeführt wurde“, erläutert er. Dieser Pflicht kam der EuGH jedoch in seinem Urteil nicht nach. Das Gericht prüfte lediglich, ob die Maßnahmen mit den Zielen der EZB vereinbar waren. „Auf Grund der mangelhaften Abwägung im Urteil des EuGH konnte das BVerfG nicht anders entscheiden“, so Prof. Simon.

 

Aus volkswirtschaftlicher Sicht fällt die Analyse des Urteils weniger eindeutig aus. Infolge der Finanzkrise 2008, auf Grund derer das Anleihenkaufprogramm der EZB aufgelegt wurde, konnte kein makroökonomisches Modell die zukünftige Entwicklung der Wirtschaft verlässlich vorhersagen. „Eine verlässliche Proportionalitätsanalyse, also die Abwägung zwischen den Auswirkungen des Programms auf die Währungs- und Konjunkturpolitik, konnte zu diesem Zeitpunkt nicht durchgeführt werden“, so Carsten Brzeski von der niederländischen ING-DiBa AG.

Verlässliche Aussagen zu den Auswirkungen des Programms auf Währungs- und Konjunkturpolitik konnten also erst retrospektiv getroffen werden. Die EZB konnte ihrer rechtlich vorgegebenen Pflicht, eine angemessene Proportionalitätsanalyse vor Einführung des Programms durchzuführen, nicht nachkommen.

Das Urteil des BVerfG könnte gegebenenfalls dazu führen, dass sich die Bundesbank aus dem Anleihenkaufprogramm zurückziehen müsste. Würde Deutschland als größter Geldgeber der EZB aus dem Programm aussteigen, könnte dies einen Glaubwürdigkeitsverlust der Europäischen Währungspolitik bedeuten.

 

In der anschließenden Diskussion wurde die Trennung von Währungs- und Konjunkturpolitik noch einmal eingehend aus ökonomischer- und rechtswissenschaftlicher Sicht betrachtet. Während für Ökonomen die Trennung zwischen Konjunktur- und Währungspolitik oftmals nicht klar zu ziehen ist, argumentieren Rechtsexperten, dass diese Trennung auf Grund der EU-Verträge festgeschrieben ist und daher möglich gemacht werden muss.

Zum Abschluss der Diskussion hebt Prof. Dr. Simon positiv hervor, dass das Urteil des BVerfG zu einer verstärkten Kommunikation zwischen Ökonomen und Rechtsexperten auf EU Ebene geführt hat. Für die Zukunft wünscht er sich ein verstärktes Verständnis für die verschiedenen Rechtskulturen und ein Europa, welches „in Vielfalt geeint ist“.